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Bild: JR Korpa via Unsplash

Die Erfindung der „Sucht“ und ihre schwerwiegenden Konsequenzen

Wenn von „Sucht“ gesprochen wird, hat man schnell Bilder vor Augen, was damit gemeint ist. Korbinian Baumer argumentiert dafür, genauer hinzusehen, weil sich die Vorstellungen, die wir von „Sucht“ haben – ob als persönliches Versagen oder als Krankheit – schädlich auswirken. Für seine Masterarbeit hat er zu „Sucht“ und Stigmatisierung in Dar es Salaam (Tansania) geforscht und für #mybrainmychoice den theoretischen Teil seiner Arbeit zusammengefasst.

Sucht“ – dieser Begriff ist in der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken, kaum eine Diagnose ist in der Gegenwartsgesellschaft so verbreitet. Jede erdenkliche menschliche Handlungsweise kann durch das Suffix „Sucht“ in ein problematisches Verhalten verwandelt werden (Dollinger & Schmidt-​Semisch 2007: 7). Das Spektrum reicht hierbei von den „klassischen“ Drogensüchten bis hin zu Substanz-​ungebundenen „Süchten“ wie zum Beispiel „Sexsucht“, „Spielsucht“, „Internetsucht“ oder „Fettsucht“. Bücher, die es der*dem Leser*in erleichtern sollen, sich aus den Fängen ihrer*seiner „Sucht“ zu befreien, sind zu einem Kassenschlager avanciert. Der Begriff „Sucht“ ist fest in unserer Alltagssprache verankert, wenngleich er nur selten wirklich hinterfragt wird. Auch in der Wissenschaft hat sich das Suchtkonzept derart verfestigt, dass es von der Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinde kaum noch als hinterfragbare Theorie angesehen wird (Frenk & Dar 2000: 1), obwohl es keine eindeutige, auf hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Definition für dieses Konzept gibt: „addiction is a muddy term [which] […] has passed into that group of terms that elude precise definition“ (Ray & Ksir 1987: 24,26).

Sucht“ wird heutzutage in so ziemlich allen Gesellschaften weltweit als eine negative Verhaltensweise angesehen, die es zu vermeiden und korrigieren gilt. Diese negative Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen für die als „süchtig“ abgestempelten Menschen. Sie werden als „abnormal“ bezeichnet und in Folge dessen stigmatisiert. 

In diesem Artikel erörtere ich den Zusammenhang zwischen dem sozialen Konstrukt „Sucht“ und dem Prozess der Stigmatisierung. Dazu nähere ich mich dem Begriff „Sucht“ zunächst aus einer historischen Perspektive an, um herauszufinden, wie es im Laufe der Zeit zu dem heutigen gesellschaftlichen, negativen Verständnis von „Sucht“ gekommen ist. Anschließend stelle ich kurz den Prozess der Stigmatisierung vor und gehe auf dessen Auswirkungen auf Gesellschaft und Individuum ein.

Das Konzept „Sucht“ als problematische Abhängigkeit von Substanzen oder bestimmten als für die Konsument*innen und die Gesellschaft schädlich angesehene Verhaltensweisen gab es schlichtweg zu dieser Zeit noch nicht.

Beginnen wir mit der Definition des englischen Begriffs für „Sucht“, addiction, des Oxford English Dictionary (OED) von 1884. Addiction wird dort von dem lateinischen Verb addicere (jemanden etwas als Eigentum zugestehen) hergeleitet und bedeutet zum einen ausgehend vom römischen Recht „a formal giving over or delivery by sentence of court. Hence, a surrender, or dedication, of any one to a master” (Murray in Alexander 2008: 27–28). Hier bezieht sich addiction also auf die rechtliche Handlung, jemanden einen Sklaven oder eine Sklavin als Eigentum zuzusprechen, eine Praxis, die im alten römischen Reich üblich war (ebd.: 28). 

Zum anderen gibt das OED von 1884 in einem zweiten Definitionsteil an, addiction sei „the state of being (self-)addicted or given to a habit or pursuit; devotion” (ebd.: 28). Dieser Teil der Definition bezieht sich auf einen Zustand der Unterwürfigkeit gegenüber einer Gewohnheit oder einer Betätigung. Von Zwang ist hier nicht die Rede und es wird offengelassen, ob diese Unterwürfigkeit positiv oder negativ bewertet wird. Es ist auch nicht die Rede von addiction, also „Sucht“, als Abhängigkeit von bestimmten Substanzen. Der Begriff wurde zu dieser Zeit nur selten mit dem Konsum von Drogen in Verbindung gebracht (Alexander & Schweighofer 1988: 152). 

Das Konzept „Sucht“ als problematische Abhängigkeit von Substanzen oder bestimmten als für die Konsument*innen und die Gesellschaft schädlich angesehene Verhaltensweisen gab es schlichtweg zu dieser Zeit noch nicht. Erst in der Version des OED von 1989, vor 30 Jahren, wurde die Definition von addiction um einen weiteren Punkt erweitert: „The, or a, state of being addicted to a drug; a compulsion and need to continue taking drugs as a result of taking it in the past“ (Simpson & Weiner 1989: 143). 

Die Anti-​Drogen-​Bewegungen sahen in allen Drogenkonsument*innen die schlimmsten „Süchtigen“, die sich gegen die „wirklich wichtigen“ Dinge im Leben wie Familie, Arbeit, Gemeinschaft, Religion und Selbstachtung stellten.

Notorische Trunkenheit wurde lange Zeit als „natürlich“ und „normal“ angesehen, als eine individuelle Entscheidung zugunsten des Genusses (Levine 1978: 151). Gebräuchliche Begriffe hierfür waren beispielsweise love oder affection, die die Zuneigung einer Person zum Konsum von Alkohol beschrieben (ebd.: 148).

Erst durch das sogenannte Temperance Movement und die Anti-​Opium-​Bewegungen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Nordamerika und Europa immer weiter verbreiteten, veränderte sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Alkohol- und Drogenkonsum. Addiction wurde nun direkt mit Drogen, vor allem Alkohol und Opium, in Verbindung gebracht und als schädlich beschrieben (Alexander & Schweighofer 1988: 152). Den Konsument*innen dieser Substanzen wurde nachgesagt, sich nicht aus freiem Willen zu berauschen, sondern weil sie es „mussten“ (Levine 1978: 144). Ihnen wurde dabei also ihre Handlungsmacht abgesprochen und ein Zwang des Konsums unterstellt. 

Schritt für Schritt wuchs das Temperance Movement zu der größten Massenbewegung im Amerika des 19. Jahrhunderts heran (ebd.: 165) und beeinflusste die öffentliche Meinung gegenüber dem Konsum von Alkohol und anderen Substanzen maßgeblich. Begriffe wie love oder affection, die die Begierde nach Alkohol bezeichneten, wurden kaum mehr benutzt. Das Verlangen nach Rausch wurde nun mit Worten wie overwhelming, overpowering oder irresistible umschrieben (ebd.: 148), Alkohol als ardent spirits, hard liquor oder demon rum charakterisiert (Alexander 2008: 30). Zum ersten Mal in der Geschichte war von „Alkoholismus“ und „Sucht“ die Rede (ebd.: 31). „Süchtige“ waren besessen vom Alkoholkonsum „that they became different people, alien to their own society and to their own previous identities“ (ebd.: 31). 

Die Anti-​Drogen-​Bewegungen sahen in allen Drogenkonsument*innen die schlimmsten „Süchtigen“, die sich gegen die „wirklich wichtigen“ Dinge im Leben wie Familie, Arbeit, Gemeinschaft, Religion und Selbstachtung stellten (ebd.: 31). Die Medien verbreiteten Bilder von ruinierten Alkoholiker*innen und kranken „Junkies“, die in Folge zu kulturellen Archetypen wurden, die sich in der ganzen Welt verbreiteten. Ein neues Paradigma wurde erschaffen, das „Sucht“ als etwas Böses oder Krankhaftes definierte. Die Bevölkerung sah Rausch, Zügellosigkeit und notorische Trunkenheit nun als Krankheit an, die der Konsum von Alkohol für gewöhnlich mit sich bringe. Diese Ansicht wurde schnell auf den Konsum anderer Substanzen wie zum Beispiel Opium übertragen (Levine 1978: 161). Das Konzept „Sucht“ als Krankheit und Charakterfehler war geboren, obwohl es keinerlei wissenschaftliche Beweise dafür gab:

Addiction is now defined as an illness because doctors have categorized it thus […]. But such views were never scientifically autonomous. Their putative objectivity disguised class and moral concerns which precluded an understanding of the social and cultural roots of opium use.“ (Berridge & Edwards 1981: 150)

Arbeit rückte in den Mittelpunkt des täglichen Lebens, Genuss in jeglicher Form hingegen wurde zum negativ behafteten „Müßiggang“ deklariert. Kaffee und Tee hingegen wurden begrüßt.

Nun stellt sich die Frage, was die Ursachen für diesen Paradigmenwechsel waren. Wie wurde aus dem genüsslichen, gesellschaftlich akzeptierten Rausch eine krankhafte, moralisch verurteilte „Sucht“? Diese Frage allumfassend zu beantworten stellt sich an dieser Stelle aufgrund der zahlreichen möglichen Einflüsse auf die gesamtgesellschaftliche Einstellung gegenüber dem Konsum von gewissen Substanzen als schwierig dar. Jedoch dürfte die Ausbreitung des Protestantismus dabei sowohl in Nordamerika als auch in Europa eine wichtige Rolle gespielt haben. 

Nach Max Webers Beschreibung der „protestantischen Ethik“ entwickelte der Protestantismus eine neue Idee vom Idealzustand des Menschen. Arbeit rückte in den Mittelpunkt des täglichen Lebens, Genuss in jeglicher Form hingegen wurde zum negativ behafteten „Müßiggang“ deklariert (Nolte 2007: 48). Der Verlust der Selbstkontrolle wurde immer weniger toleriert. Calvins Aussage „der Körper ist nichts, der Geist ist alles“ (Calvin in Nolte 2007: 48) spiegelt dieses Lebensmodell gut wider. In den Reden und Schriften protestantischer Prediger ist immer wieder von dem „grewlichen [sic] Laster der Trunckenheit [sic]“ (Nolte 2007: 50) die Rede und es wurde den Gläubigen sehr deutlich gemacht, dass „Säufer“ keinesfalls gute Christ*innen sein können.

Kaffee und Tee hingegen wurden begrüßt, da deren Wirkungsweisen gut zu den Anforderungen einer protestantischen Arbeitsethik – ein funktionierender, rationalistischer, bürgerlich-​fortschrittlicher Körper – passten (Schivelbusch 1990: 50f.). Während Kaffee und Tee für den Rationalismus und die protestantische Arbeitsethik standen, wurde Alkohol als permanente Gefahr für die neuen Ideale gesehen (Nolte 2007: 52). Man kann hier deutlich erkennen, dass die kulturellen Wirklichkeiten einer Droge dadurch konstruiert werden, dass bestimmten Ideen intersubjektiv Glauben geschenkt wird und diese dann institutionalisiert werden (ebd.: 50).

Das heißt, die Ursache von „Sucht“ wird nun nicht mehr in der konsumierten Substanz sondern im Körper der*des Betroffenen an sich angesiedelt.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Verständnis von „Sucht“ stetig weiter. Heute beinhaltet die allgemein anerkannte Definition auch Verhaltensweisen jenseits des Konsums bestimmter Substanzen. Glücksspiel, Liebe, das Spielen von Videospielen etc. kann demnach dieselben desaströsen Konsequenzen haben wie Drogen oder Alkohol (Alexander 2008: 35). Das heißt, die Ursache von „Sucht“ wird nun nicht mehr in der konsumierten Substanz sondern im Körper des*der Betroffenen an sich angesiedelt. An dem negativ behafteten Bild von „Sucht“ als Krankheit hat sich jedoch wenig verändert, es verfestigte sich sogar. „Sucht“ wird vor allem in den „westlichen Gesellschaften“ heute eindeutig als individuelles, biologisches Problem verstanden, das durch biomedizinische Therapie behandelt werden sollte (Levine 1978: 162; Peele 1990: 208–209).

Heroinabhängige beispielsweise werden aus dieser vorherrschenden biomedizinischen Sichtweise heute als Sklav*innen neurochemischer Mechanismen abgestempelt, die unweigerlich zur „Sucht“ nach Genuss – oder in anderen Worten – Endorphinen bzw. Dopamin führen (Peele 2000: 601). Dem*der „Süchtigen“ wird hier unterstellt, er*sie leide an einer Krankheit, die durch chemische Prozesse im Körper ausgelöst wird. Sie haben keine Kontrolle mehr über ihren Konsum und die damit verbundenen Handlungsweisen und müssen daher medizinisch behandelt werden (Akers 1991: 778). Das handelnde Subjekt tritt als seine*ihre Handlungsimpulse steuernde*r Akteur*in zurück (Dollinger & Schmidt-​Semisch 2007: 9). Eine Person, die „süchtig“ geworden ist, müsse daher wieder zur „Normalität“ geführt werden (Alexander 2008: 1). 

Mediziner*innen gehen von einem „natural course of addiction“ aus, der durch ärztliche Behandlung wirkungsvoll unterbrochen werden könne (McLellan et al. 2000: 1692): Die Behandlung von Drogenabhängigkeit „should be taught as part of medical school and residency curricula and routinely incorporated into clinical practice“ (ebd.: 1694). Diese pathologisierende Deutung ist international sehr verbreitet und prägt maßgeblich die Diskurse, die über „Sucht“ geführt werden (Dollinger & Schmidt-​Semisch 2007: 10). 

Menschen werden auch nach wiederholtem und regelmäßigem Konsum bestimmter Substanzen nicht ausnahmslos „süchtig“. Andere können ihre angebliche „Sucht“ selbst wieder beenden.

Das bedeutet nicht, dass einige Personen nicht durchaus bestimmte Konsummuster ausprägen, die von ihnen selbst als problematisch eingestuft werden. Ihre selbstbestimmte Lebensweise wird ihnen durch den Konsum erschwert und externe (medizinische und psychologische) Unterstützung kann wirksam sein. Jedoch besteht bei der grundsätzlichen Pathologisierung von „Sucht“ einerseits das Problem, dass bestimmte Konsummuster automatisch als Krankheit kategorisiert werden und andererseits, dass alternative Wege des Umgangs mit als problematisch wahrgenommenen Konsummustern jenseits der Behandlung als Krankheit per se nachrangig gehandhabt oder ausgeschlossen werden.

Obschon es von außen unmöglich ist, zu unterscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten unkontrollierbar ist oder schlichtweg nicht kontrolliert wird (Akers 1991: 779), wird das Verhalten der Betroffenen als „Sucht“ bezeichnet, weil es angeblich außer Kontrolle sei. 

Einige Soziolog*innen, Anthropolog*innen und Psycholog*innen widersprechen der Behauptung, „Sucht“ sei ein bestimmtes, unveränderliches biologisches Phänomen und schlussfolgern daraus, sie sei an sich nicht real. Menschen werden auch nach wiederholtem und regelmäßigem Konsum bestimmter Substanzen nicht ausnahmslos „süchtig“ und auch Personen, denen eine „Sucht“ nach einem bestimmten Verhalten nachgesagt wird, können ihren Konsum bzw. ihr Verhalten nicht selten wieder beenden (Peele 2000: 600), beispielsweise aufgrund sich ändernder Lebensumstände oder religiöser Einstellungen. 

So gibt es Frauen, die ihren regelmäßigen Heroinkonsum beenden, weil sie schwanger werden und ein Kind erwarten oder Jüd*innen, die ihren Zigarettenkonsum für die Zeit des Sabbats pausieren (ebd.: 606–607). Das lässt darauf schließen, dass äußere Einflüsse wie der Kontext, in dem bestimmte Substanzen konsumiert oder Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, persönliche Einstellungen, soziale Definitionen und andere soziale Faktoren eine große Rolle dabei spielen, wie zwanghaft eine Gewohnheit letztendlich ist (Akers 1991: 780).

Sobald einer Person oder Gruppe bestimmte Merkmale zugeschrieben wurden, werden diese sehr schnell mit Vorurteilen verknüpft. Dieser Stigmatisierungsprozess kann schwerwiegende soziale und psychische Folgen für die Betroffenen haben.

Auch die Art und Weise, wie wir über „Sucht“ denken, beeinflusst, wie ein Individuum zum „Süchtigen“ wird, da es durch die Erwartungshaltung seiner Umgebung geprägt wird. Es lernt sozusagen, „süchtig“ zu sein (Peele 2000:599). Ausgangspunkt dieses Phänomens ist ein sozialer Prozess, der Prozess der Stigmatisierung. Hierbei unterliegt eine Person einer schrittweisen sozialen Kategorisierung, wobei sie schließlich nur noch auf einige wenige Merkmale reduziert und aufgrund dieser letztendlich diskriminiert wird: Sobald einer Person oder Gruppe bestimmte Merkmale zugeschrieben wurden, werden diese sehr schnell mit Vorurteilen verknüpft. Ein zugeschriebenes Merkmal wird von der Gesellschaft automatisch und unterbewusst mit bestimmten unerwünschten Charakterzügen in Verbindung gebracht (Link & Phelan 2001: 368–369).

Im nächsten Schritt wird eine Trennung zwischen „uns“ und den „Anderen“ vorgenommen. Durch die bereits genannten zugeschriebenen, vorurteilsbehafteten Merkmale wird der Gesellschaft suggeriert, dass die abgestempelten Personen fundamental anders seien als wir selbst – die „Normalen“. Sie gehören einer anderen „Art“ von Mensch an. Im Extremfall werden sie sogar nicht mehr als Menschen wahrgenommen. Nachdem die betroffenen Personen abgestempelt und von „uns“ separiert wurden, fällt es nicht mehr schwer, sie „guten Gewissens“ abzulehnen und auszugrenzen. Nach Link und Phelan führt das in den meisten Fällen zum Verlust des sozialen Status und somit zu Ungleichheit (Link & Phelan 2001: 371). 

Dieser Stigmatisierungsprozess kann schwerwiegende soziale und psychische Folgen für die Betroffenen haben. In seinem Buch Being Mentally Ill: A Sociological Theory behauptet der Soziologe Thomas Scheff sogar, dass Menschen mit einer angeblichen chronischen psychischen Erkrankung erst durch Stigmatisierung wirklich chronisch krank werden. Sobald eine Person als psychisch krank (hier „süchtig“) abgestempelt wurde, wird von ihr ein bestimmtes Verhalten erwartet. Die Person, die die Erwartungshaltung der Gesellschaft an sie kennt, wird diese Erwartungen erfüllen und so die Rolle des*der psychisch Kranken einnehmen. Auf Dauer wird sie diese Rolle verinnerlichen, mit der Konsequenz, „wirklich“ chronisch krank zu sein (Scheff 1966: 82). Scheff wurde für diese Theorie von vielen stark kritisiert. 

Der Meinung der Kritiker*innen nach werden Personen mit psychischen Erkrankungen aufgrund ihres Verhaltens diskriminiert und nicht aufgrund der ihnen zugeschrieben Rolle des*der psychisch Kranken (Link et al. 1989: 401). Trotz dieser Kritik nutzen Bruce G. Link und seine Kollegen Scheffs Annahmen als Ausgangspunkt für ihre modified labeling theory, die Stigmatisierung zwar nicht als die Ursache für chronische psychische Erkrankungen sieht, jedoch davon ausgeht, dass Stigmatisierung nichtsdestotrotz schwerwiegende Folgen für das Individuum hat. So schwer, dass dadurch weitere Erkrankungen folgen können (ebd.: 402–404). Stigma wird sozusagen zur zweiten Krankheit (Finzen 2001: 24).

Dieser Studie nach determiniert die Art und Weise, wie in einer bestimmten Gesellschaft über „Sucht“ gedacht wird, nicht nur psychische, sondern sogar physische Charakteristika von „Sucht“.

Wie der Suchtbegriff zeigt, handelt es sich bei derlei Zuschreibungen jedoch um flexible, kultur- und zeitabhängige Phänomene, was sich zum Beispiel am gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol darstellen lässt: Alkohol wie auch andere konsumierbare Substanzen sind kulturelle Artefakte. Die Art und Weise sowie Bedeutung des Konsums sind – wie auch die Nutzung anderer Artefakte – kulturell definiert. Welche Substanz in welcher Menge zu welcher Zeit an welchem Ort gesellschaftlich toleriert wird, ist zumeist von vornherein festgeschrieben. Das gilt auch für das aus dem Konsum resultierende Verhalten (Mandelbaum 1965: 281). 

So ist es in protestantischen Glaubensgemeinschaften sogar verboten, Alkohol symbolisch im Rahmen bestimmter Kommunions-​Ritualen zu sich zu nehmen (Cherrington 1924: 669–670), während es beispielsweise bei den Azteken von zentraler Bedeutung war, sich bei jedem religiösen Anlass zu betrinken, um die Götter zu besänftigen (Thompson 1940: 68). 

Oder ein anderes Beispiel des Anthropologen David G. Mandelbaum aus den 1960er Jahren: Französische Pilot*innen durften zu dieser Zeit während des Fluges Wein zu ihrem Essen trinken, da diese Art des Alkohols in Frankreich als Nahrungsmittel galt. Amerikanische Pilot*innen hingegen mussten mehrere Stunden vor und während dem Flug abstinent bleiben (Mandelbaum 1965: 2).

Sie schlussfolgern, dass der Prozess, durch den diese Neudefinierung stattfindet, mehr über die Gesellschaft, in der sie stattfindet, aussagt als über das Phänomen des „Alkoholismus“ an sich.

Die Art und Weise des Konsums bestimmter Substanzen scheint also an die jeweilige Kultur gebunden zu sein. Gleiches gilt auch für „Sucht“ als angebliche Folgeerscheinung des Konsums. Der Soziologe und Drogenforscher Robin Room untersuchte zusammen mit einer Reihe von Epidemiolog*innen, Ärzt*innen und Anthropolog*innen im Rahmen einer Studie der WHO die Einheitlichkeit von Alkoholabhängigkeit zwischen verschiedenen Gesellschaften. Sie kamen zu folgendem Schluss:

While descriptions of dependence symptoms were quite similar among key informants from sites that share norms around drinking and drunkenness, they varied significantly in comparison between sites with markedly different drinking cultures. […] Contrary to expectation, descriptions of physical dependence criteria appeared to vary across sites as much as the more subjective symptoms of psychological dependence.“ (Schmidt & Room et al.: 1999: 448)

Dieser Studie nach determiniert die Art und Weise, wie in einer bestimmten Gesellschaft über „Sucht“ gedacht wird, nicht nur psychische, sondern sogar physische Charakteristika von „Sucht“. Dies bestätigen auch die Beobachtungen des Anthropologen Dwight Heath, der das Trinkverhalten der Camba im Osten Boliviens untersuchte, die für ihren starken Alkoholkonsum bekannt sind: „Hangovers and hallucinations are unknown among these people, as is addiction to alcohol“ (Heath 1962: 31). Heaths Beobachtungen nach scheinen die Camba das Konzept der „Sucht“ nicht zu kennen. 

Ein weiteres Beispiel geben der Arzt und Soziologe Stephen Kunitz und der Medizinethnologe Jerrold Levy, die bei den Navaho in Nordamerika forschten:

[Strong drinkers] not for the most part define themselves as sick in the same way as health professionals do. As the society changes, however, these behaviours increasingly come to be seen as maladaptive to the new world where people are expected to be at work on time; where no network of kin is available to help when a husband is out drinking; where bills must be paid and where all sorts of obligations the dominant society takes for granted must be fullfilled […]. In the new society that is emerging, older patterns of behaviour are increasingly defined as in some way deviant. The drinker´s behaviour comes to be defined as sick. He is no longer a man who drinks a lot; he is an alcoholic.“ (Kunitz & Levy 1974: 254–255)

Sie schlussfolgern, dass der Prozess, durch den diese Neudefinierung stattfindet, mehr über die Gesellschaft, in der sie stattfindet, aussagt als über das Phänomen des „Alkoholismus“ an sich (ebd.: 257). Das Verständnis von „Sucht“ scheint diesen Aussagen nach also kulturspezifisch zu sein, es kann von einem culture-​bound-​syndrome gesprochen werden (Room 2003: 223). Auch die westliche, biomedizinische bzw. psychiatrische Vorstellung von „Sucht“ sei keineswegs objektiv und universell und ebenfalls an eine bestimmte kulturelle Denkweise gebunden. 

Nicht die angeblichen Merkmale einer Person sind also gemäß der Stigma-​Theorie das Problem, sondern vielmehr die Gesellschaft, die den Personen diese Merkmale zuschreibt.

Sucht“ ist somit ein einflussreiches Konzept und in gewissen gesellschaftlichen Kontexten real, weil die Menschen glauben, sie sei real. Menschen werden „süchtig“, handeln „süchtig“ und fühlen sich „süchtig“, weil sie dem Konzept, das die Biomedizin als universell gültig angesehene Instanz so vehement verteidigt, Glauben schenken. Nicht die angeblichen Merkmale einer Person sind also gemäß der Stigma-​Theorie das Problem, sondern vielmehr die Gesellschaft, die den Personen diese Merkmale zuschreibt. 

Ein Umfeld, das dem Konsum bestimmter Substanzen unreflektiert von vornherein negativ gegenübersteht, erschwert es den konsumierenden Personen beispielsweise, einen angemessenen Job zu finden. Die betroffenen Personen werden demnach zwar nicht direkt beleidigt, bedroht oder physisch angegriffen, jedoch trotzdem benachteiligt und somit indirekt diskriminiert. Die psychologischen Folgen derlei struktureller Diskriminierung sind für den*die Einzelne*n oft desaströs.

Es ist dringend nötig, einen offenen, akzeptierenden Umgang mit Personen, die Drogen nehmen, zu entwickeln und deren Konsummuster nicht in Schubladen zu stecken. Der pauschalisierende und wertende Begriff „Sucht“ sollte ersatzlos gestrichen werden (also auch nicht von „Abhängigkeit“ gesprochen werden). Stattdessen braucht es in der Politik, Forschung und in der Drogenhilfe ein Verständnis von Drogengebrauch, das sowohl kulturelle Bedingungen und Stigmatisierungsprozesse berücksichtigt als auch der Vielfalt an Konsummustern gerecht wird.


Quellen:

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Berridge, Virginia; Edwards, Griffith (1981): Opium and the people: opiate use in nineteenth century England. London: Allen Lane.

Cherrington, E. H. (1924): Standard encyclopedia of the alcohol problem. Westerville: American Issue Publishing Co.

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Frenk, Hanan; Dar, Reuven (2000): A Critique of Nicotine Addiction. Boston u.a.: Kluwer Academic Publishers.

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Mandelbaum, David G. (1965): Alcohol and Culture. In: Current Anthropology, 6 (3), 281–293.

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Nolte, Frank (2007): „Sucht“ – zur Geschichte einer Idee. In: Dollinger & Schmidt-​Semisch (Hg.): Sozialwissenschaftliche Suchtforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 47–58.

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Schivelbusch, Wolfgang (1990): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft: eine Geschichte der Genussmittel. Frankfurt a.M.: Fischer.

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