Empfehlungen für Community-​basierte partizipative Forschung (CBPR) zu drogenpolitischen Fragen

Eine Handreichung der Drug Policy Alliance vom Februar 2023

Autorisierte deutsche Übersetzung von Philine Edbauer (My Brain My Choice Initiative)

Die Drug Policy Alliance (DPA) ist eine etablierte Nichtregierungsorganisation, die sich in den USA gegenüber Öffentlichkeit und Politik für die Wahrung von Gesundheitsrechten und die Gewährleistung sozialer Unterstützung in der Drogenpolitik einsetzt. Statt in strafende Ansätze zu investieren, die Menschen destabilisieren und Gemeinschaften Ressourcen entziehen, müsse das gemeinschaftliche Wohlergehen in den Mittelpunkt gestellt werden.

ANMERKUNGEN ZUR ÜBERSETZUNG:

Das Wort „Community“ wurde für die deutschsprachige Fassung unverändert aus dem Englischen übernommen. Es bezeichnet zum einen das, was im Deutschen meist mit „Gemeinschaft“ gemeint ist: Innerhalb dieser können sich viele untereinander kennen und diese Gemeinschaftlichkeit aktiv zusammen gestalten (z.B. Kirchengemeinde, Online-​Community). Das englische „Community“ kann gleichzeitig aber auch in einem weiteren Sinne eine konzeptionelle Gruppe an Menschen bezeichnen, die lediglich eine bestimmte Erfahrung, Identität oder Situation miteinander teilt. Zum Beispiel: „Internationale Forschungsgemeinschaft“, „Internationale Staatengemeinschaft“, „drug user community“. Wen „Community“ in „Community-​basierter partizipativer Forschung“ umfassen soll und wen nicht, kann von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt unterschiedlich begründet und eingegrenzt werden.

Man könnte alternativ von „Forschung mit Betroffenen“ sprechen, riskiert damit aber eine, im Suchtkontext mitunter entmündigend gemeinte, voreingenommene Einseitigkeit („Betroffene“ sind negativ betroffen), die man für eine ergebnisoffene Forschung auf Augenhöhe vermeiden möchte. Der hier thematisierte Ansatz zeichnet sich durch die konsequente Mitwirkung an allen Schritten des Forschungsprozesses aus und geht über einfache Formen der Beteiligung hinaus.

Die Drug Policy Alliance prägt den Begriff der „Community driven“ research“. Da sich der Begriff „driven“ schwer übersetzen lässt, wird hier auf die „Community-​basierte partizipative Forschung (CBPR)“ zurückgegriffen (siehe Methodenüberblick des Nationalen Diskriminierungs- und Rassimusmonitors).

Im Frühjahr 2022 veranstalteten die Drug Policy Alliance, die Urban Survivors Union und das Network of Drug Researchers with Lived Experience gemeinsam eine 4‑teilige digitale Diskussionsreihe mit dem Titel Beyond participatory-​based research: Innovations in community-​driven drug policy research“; zu Deutsch: „Jenseits partizipativer Forschung: Innovationen in der Community-​basierten partizipativen Forschung zu drogenpolitischen Fragen“. („Community-​driven research“ wurde in der Übersetzung übertragen zu: „Communty-​basierte partizipative Forschung“).

Ziel der Treffen war es, Forschende, die sich mit drogenpolitischen Fragen beschäftigen, dazu anzuregen, ihre Interaktionen mit Menschen, die Drogen konsumieren, sowie mit jenen, die vom Drogenkrieg betroffen sind, kritisch zu reflektieren.

Die Sitzungen gaben den Forschenden Werkzeuge an die Hand, mit denen sie Community-​basierte partizipative Forschung durchführen und in jeder Phase des Forschungsprozesses eng mit den betroffenen Personen zusammenarbeiten können. Community-​basierte partizipative Forschung verbessert nicht nur die Forschung selbst, indem sie die Relevanz von Forschungsfragen, Methoden und Analysen stärkt sowie für eine effektive Verbreitung der Ergebnisse sorgt, sondern kann auch zur verbesserten Vernetzung von Gemeinschaften beitragen und Einfluss auf politische Entscheidungen und Maßnahmen nehmen.

Für den Erfolg von Community-​basierter partizipativer Forschung ist es laut Simon et al. (2021) entscheidend, einen Raum zu schaffen, in dem sich die Beteiligten nicht an die traditionelle Zweiteilung in „Forschende“ und „Forschungsobjekte“ gebunden fühlen. Die folgenden Empfehlungen sollen dabei helfen, ein Umfeld zu gestalten, in dem alle Beteiligten sich als aktiv Mitgestaltende des Forschungsprozesses verstehen und ihre Verhältnisse, Identitäten sowie Lebenserfahrungen erkunden sowie selbst definieren können:

Community-​basierte partizipative Forschung erfordert Zeit und Sorgfalt.

  • Forschende aller Disziplinen sollten Community-​basierte partizipative Forschung in Betracht ziehen. Dabei ist zu beachten, dass dieser Ansatz mehr Zeit und Energie erfordern kann als andere. Gleichzeitig sollten Forschende bestrebt sein, ihre Arbeit so authentisch wie möglich in die Community einzubringen. Community-​basierte partizipative Forschung ist ein Spektrum, bei dem die Einbindung der Community stärker oder weniger stark erfolgen kann.
  • Seien Sie offen und transparent. Geben Sie der Community keine Versprechungen oder Zusagen, die Sie nicht einhalten können.
  • Von der Konzeption über die Durchführung bis hin zur Analyse und Verbreitung werden Community-Partner*innen – also direkt betroffene Community-Organisator*innen, Aktivist*innen und Menschen mit gelebter Erfahrung – in den gesamten Forschungsprozess einbezogen.

Schon vor Beginn der Forschung ist es wichtig, Beziehungen zu Aktivist*innen und Community-​Organisationen aufzubauen.

  • Vertrauen und gute Beziehungen bilden die Grundlage von Community-​basierter partizipativer Forschung. Ihr Aufbau kann nicht überstürzt werden.
  • Pflegen Sie Beziehungen zur Community, um über das Leben der Menschen informiert zu bleiben und ihre unmittelbaren wie auch langfristigen Bedürfnisse zu verstehen.
  • Erscheinen Sie regelmäßig und pünktlich bei Community-​Mitgliedern, sowohl in Forschungs- als auch in nicht-​forschungsbezogenen Kontexten. Setzen Sie sich außerdem für sie ein, wenn sie (politisch) angegriffen werden.
  • Fordern Sie unethische Forschung auf Konferenzen und in schriftlichen Stellungnahmen heraus. Bei Community-​basierter partizipativer Forschung geht es nicht nur um die Zusammenarbeit mit der Community, sondern auch darum, sich für sie einzusetzen – auch wenn sie nicht anwesend ist.

Kompensieren Sie die Community-Partner*innen für ihre Zeit und ihre Expertise.

  • Arbeiten Sie mit den Buchhalter*innen Ihrer Einrichtung zusammen, um die Teilnehmenden Ihrer Forschung so zu entschädigen, wie sie es wünschen (z. B. bar, per Überweisung oder PayPal).
  • Stellen Sie sicher, dass alle Mitglieder des Forschungsteams die Möglichkeit haben, für ihre Beiträge Anerkennung zu erhalten.

Wenden Sie sich Forschung zu, die der Community zugutekommt.

  • Stellen Sie sicher, dass die Forschung auf die Bedürfnisse der Community eingeht, ihre Mitglieder zusammenbringt, ihre politischen und materiellen Ziele unterstützt und Kontakte herstellt, sodass sie schließlich zur Selbstorganisation beiträgt.
  • Verfolgen Sie Forschungsfragen, die von der Community initiiert wurden.
  • Erweitern Sie Ihre traditionelle Rolle als Forscher*in, indem Sie sich während des gesamten Forschungsprojekts mit den Mitgliedern der Community als gleichberechtigte Partner*innen und mit sich ergänzenden Formen von Fachwissen auseinandersetzen.

Hinterfragen Sie die Vorstellung, dass die beste Forschung objektiv sein und auf Abstand bleiben muss, und seien Sie offen für unterschiedliche Forschungsmethoden.

  • Schaffen Sie ein Umfeld, in dem Akademiker*innen und Community-​Mitglieder gleichberechtigt agieren und in dem das unterschiedliche Wissen und die Expertisen, die sie einbringen, anerkannt werden. Schätzen Sie Erfahrungswissen als Evidenz.
  • Erwägen Sie die Methodik der Oral History oder Autoethnografie. Diese Methoden ermöglichen den Studienteilnehmenden, ihre Geschichten authentisch zu erzählen und sich diese zu eigen zu machen, anstatt ihre Erfahrungen in anonymisierte Daten zu verwandeln.
  • Setzen Sie innovative und integrative Befragungsmethoden ein, wie beispielsweise die erweiterte Gesprächsführung.
  • Erwägen Sie den Einsatz von Community-​Umfragen, bei denen die Community maßgeblich an der Formulierung der Fragen, der Festlegung der Länge und der Durchführung beteiligt ist. Solche Umfragen können ein wirkungsvolles Instrument sein, um tiefgreifende Erkenntnisse zu gewinnen und politische Entscheidungen zu beeinflussen.

Machen Sie Ihre Forschungsprozesse offen zugänglich, um allen eine Mitwirkung zu ermöglichen.

  • Gewähren Sie den Beteiligten genügend Zeit, um Unterlagen und Dokumente zu prüfen.
  • Vermeiden Sie es, ableistische Normen zu übernehmen, zum Beispiel in Bezug auf Schriftgröße, die Darstellung von Dokumenten auf Smartphones oder die Anforderungen an Seh- und Lesefähigkeiten.
  • Erklären Sie einander, welche ungeschriebenen Regeln oder Abläufe im jeweiligen Arbeitsumfeld gelten (z. B. Sitzungszeiten, Bearbeitungsfristen, konkrete Informationen zu Zeitplänen und Erwartungen sowie Methoden der Zusammenarbeit).
  • Wenn nötig, übersetzen Sie akademische Sprache für die Personen, die an Ihrer Forschung beteiligt sind. Andernfalls kann Fachjargon Barrieren zwischen Ihnen und den Mitgliedern der Community schaffen.
  • Arbeiten Sie mit niedrigschwelligen Programmen wie Google Docs [bzw. datenschutzkonformen Alternativen, Anm. d. Übers.], um unterschiedlichen Zugang zu Geräten und Internet zu berücksichtigen. Manche Beteiligte besitzen möglicherweise keinen eigenen Computer.
  • Um Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Arbeitsweisen einzubeziehen, setzen Sie verschiedene Methoden für das Gegenlesen von Dokumenten ein. Einige können besser zuhören und sich mündlich ausdrücken, für andere sind Lesen und Schreiben besser geeignet.
  • Beachten Sie bei der Planung flexible Sitzungszeiten.
  • Vermitteln Sie den Community-Partner*innen die Fertigkeiten, die sie benötigen, um zum Forschungsprozess beitragen zu können.
  • Gehen Sie nicht davon aus, dass alle offen über ihre Identität oder ihre Erfahrungen sprechen können. Informieren Sie die Community-​Mitglieder darüber, wie ihre Anonymität gewahrt wird und wie ihre Beiträge dennoch angemessen anerkannt werden. Sprechen Sie mit allen Beteiligten darüber und gehen Sie nicht davon aus, dass alle anonymisiert beitragen möchten.

Arbeiten Sie mit Community-​Organisationen zusammen, um Forschung als Katalysator für Glaubwürdigkeit und Einfluss zu nutzen, und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse so, dass sie für die Community die größtmögliche Wirkung entfalten.

  • Registrieren Sie Ihre Studie im Voraus bei einem öffentlichen wissenschaftlichen Dienst wie OSF​.io [oder z.B. auch e3data​.org und oa.atlas, Anm. d. Übers.], damit für alle Beteiligten vor Beginn der Datenerhebung ersichtlich ist, welche Fragen gestellt und wie die Daten analysiert werden.
  • Erwägen Sie, Daten und Forschungsergebnisse vor ihrer peer-​reviewten Veröffentlichung freizugeben, damit sie einen einen sofortigen Einfluss entfalten können.
  • Berücksichtigen Sie die unterschiedlichen Zielgruppen. Erstellen Sie für jede Zielgruppe mehrere Versionen desselben Materials in verschiedenen Sprachen und Formaten. Mögliche Medien sind unter anderem: 
    • Peer-​Review-​Artikel belegen Expertise und können durch ihre Veröffentlichung in zitierfähigen Fachzeitschriften Unterstützer*innen gewinnen. Ziehen Sie daher eine Open-​Access-​Veröffentlichung der Artikel vor.
    • White Papers [detaillierte Zusammenfassung der Analysen, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, Anm. d. Übers.] und Preprints [Vorabdruck der vorläufigen Version, Anm. d. Übers.] können dabei helfen, Forschungsergebnisse schneller zu verbreiten als peer-​reviewte Artikel.
    • Infografiken
    • Einseiter, Handouts, Mini-Comics
    • Videos
    • Webinare
    • Podcasts
  • Präsentieren Sie Ihre Forschungsergebnisse auf Konferenzen und Bürgerversammlungen.

Nach unten zum Feedback-​Formular: Kommentare? Vorschläge für Ergänzungen?

Die Empfehlungen sind aus den Diskussionen der Panelteilnehmenden der 4‑teiligen Veranstaltungsreihe hervorgegangen. Teilgenommen haben unter anderem:

  • Shaquita Borden, Front Porch Research Strategy/​Women with a Vision
  • Sarah Brothers, Pennsylvania State University
  • Abby Coulter, North Carolina Survivors Union and Urban Survivors Union
  • Nabarun Dasgupta, University of North Carolina
  • Shawna Ferris, University of Manitoba
  • Mary Figgatt, University of North Carolina at Chapel Hill
  • Morgan Godvin, Health in Justice Action Lab
  • Brittany Graham, Vancouver Area Network of Drug Users
  • Helena Hansen, University of California, Los Angeles
  • Naomi Lauren, Whose Corner is it Anyway
  • Amy Lebovitch, Sex Professionals of Canada and Sex Workers of Winnipeg Action Coalition
  • Laura McTighe, Florida State University and Front Porch Research Strategy/​Women with a Vision
  • Garth Mullins, Vancouver Area Network of Drug Users and Crackdown Podcast
  • Danielle Ompad, New York University School of Global Public Health and Center for Drug Use and HIV|HCV Research
  • Caty Simon, Whose Corner Is It Anyway and Urban Survivors Union
  • Louise Vincent, North Carolina Survivors Union and Urban Survivors Union
  • Nick Voyles, Indiana Recovery Alliance and Urban Survivors Union
  • Ingrid Walker, Network of Drug Researchers with Lived Experience
  • Ariel Wolf, Hacking/​/​Hustlin

Ressourcen für Community-​basierte partizipative Forschung zu drogenpolitischen Fragen

Artikel und Ressourcen zu den Grundsätzen der Community-​basierten partizipativen Forschung (community-​driven research)
Beispiele für Community-​basierte partizipative Forschung (community-​driven research)

Die Übersetzung wurde durch die Mitglieder des Drogenpolitik Briefings ermöglicht.

Anmerkungen? Ergänzungen? Schreib uns bitte Deine Vorschläge!

Nach oben scrollen