Klare Kriterien und Ziele sind sowohl für die Entwicklung der Politik als auch für die Bewertung ihrer Auswirkungen unerlässlich, um Verbesserungen in der Zukunft leichter umsetzen zu können. In der Cannabispolitik wie in der Drogenpolitik im Allgemeinen fehlen sie jedoch häufig. Stattdessen werden vage Ziele wie „die richtigen Signale setzen“ vorgebracht oder sie gehen im Populismus „gegen Drogen“ unter: Drogen seien gefährlich, deshalb müsse mit allen Mitteln hart durchgegriffen werden.
Regulatorische Maßnahmen müssen anders ansetzen: Wenn ihr Zweck in zentralen Zielen begründet ist, wird ihr Erfolg messbar.
Kanada hat bei seiner Cannabisregulierung im Jahr 2018 die wesentlichen Ziele von Beginn an definiert: Jugendschutz, Förderung der allgemeinen Gesundheit und Reduzierung der Kriminalität. Die Regierung wurde dafür kritisiert, wichtige Kriterien, allem voran soziale Gerechtigkeit, außer Acht gelassen zu haben. Durch die klare Formulierung ihrer politischen Absichten ist es der kanadischen Regierung aber immerhin gelungen, die Wirkung und den Erfolg der Gesetze auswerten zu können.
Wenn in der Vergangenheit Ziele formuliert wurden, kamen darin meist die ideologischen oder politischen Anliegen der Verbotsbefürwortenden zum Ausdruck, d.h. sie konzentrierten sich entweder zu sehr auf die Verfolgung und Bestrafung von Personen, die Drogen gebrauchten oder verkauften, oder auf die Reduzierung bzw. vollständige Eliminierung des Drogengebrauchs. Dies oft mit dem gezielten Hinweis auf das Streben nach einer „drogenfreien Welt“/„drug-free world“ – dem Hauptziel, dem alle anderen Ziele untergeordnet wurden.
Moralvorstellungen spielen in der drogenpolitischen Debatte eine erhebliche Rolle. Ein vereinfachtes Verständnis von illegalem Drogengebrauch als grundsätzlich unmoralisch oder gar „schlecht“ dient vielen als Rechtfertigung für Repression. Zwischen moralischen Urteilen über individuelles, privates Verhalten und moralischer Politik und Gesetzgebung sollte jedoch unterschieden werden. Dieser Leitfaden soll eine Reihe von Strategien und Maßnahmen vorstellen, die den potenziellen Schaden minimieren und den potenziellen Nutzen maximieren können – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Die legale Regulierung von Cannabis mag einigen radikal erscheinen. Die rechtliche und historische Realität zeigt jedoch, dass die Prohibition die radikale Politik ist. Die legale Regulierung der Produktion, des Vertriebs und des Gebrauchs von Drogen entspricht hingegen weit mehr den Methoden, die heutzutage in fast allen anderen Lebensbereichen als sinnvoll erachtet werden, um mit gesundheitlichen und sozialen Risiken umzugehen.
Dieser Leitfaden behandelt keine radikal neuen Ansätze, sondern orientiert sich an bewährten Grundsätzen des politischen Umgangs mit Risiken im Allgemeinen und schlägt lediglich vor, diese auf einen Bereich auszudehnen, in dem sie bisher noch wenig Anwendung gefunden haben. Die nachfolgenden Grundsätze für eine erfolgreiche Regulierung lehnen sich an die allgemeinen Grundsätze für politische Maßnahmen der neuseeländischen Regierung an.
Merkmale einer gelingenden Regulierung
Verhältnismäßigkeit
Der Aufwand für die Einhaltung bzw. Durchsetzung von Vorschriften sollte in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten Nutzen stehen. Mit anderen Worten: Gesetzgeber und Behörden müssen ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Risikobewertungen und einer Abwägung von Kosten und Nutzen treffen. Dies bedeutet unter anderem, dass eine Vorschrift zielgerichtet sein muss und dass der Nutzen einer Änderung die Kosten des Eingriffs überwiegen muss.
Planbarkeit
Das Regulierungssystem sollte den beteiligten Unternehmen Planungssicherheit bieten und auf andere Politikbereiche (hier unter anderem die Alkohol- und Tabakregulierung) abgestimmt sein. Ein Spannungsverhältnis zwischen Planbarkeit und Flexibilität ist allerdings möglich.
Flexibilität
Die beteiligten Unternehmen sollten über einen gewissen Spielraum verfügen, um kosteneffiziente und innovative Ansätze zur Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen zu verfolgen. Ein Regulierungssystem ist flexibel, wenn erstens der zugrundeliegende Regulierungsansatz an den übergeordneten Zielen und der Eignung der Maßnahmen gemessen wird, zweitens die Richtlinien und Prozesse so gestaltet sind, dass sie einen gewissen Handlungsspielraum zulassen, und drittens nicht-regulatorischen Ansätzen, einschließlich der Selbstkontrolle, wann immer möglich Vorrang eingeräumt wird.
Stabilität
Das Prinzip der Stabilität ist eng mit dem Prinzip der Flexibilität verbunden; das Regulierungssystem sollte in der Lage sein, sich an neue Erkenntnisse und veränderte Umstände anzupassen. Flexibilität und Stabilität sind zwei Seiten derselben Medaille; ein System ist eher von Dauer, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass es „lernen“ kann.
Hinweise auf Stabilität sind erstens das Vorhandensein von Feedback-Systemen zur Bewertung des rechtlichen Rahmens in der Praxis, zweitens Verfahren zur regelmäßigen und anlassbezogenen Neubewertung von Entscheidungen und drittens die Fähigkeit des Regelwerks, mit dem technologischen Wandel und Innovationen aus anderen Bereichen Schritt zu halten.
Transparenz und Rechenschaftspflicht
Das Prinzip der Stabilität spiegelt sich auch in dem Grundsatz wider, dass die Entwicklung und Durchsetzung von Vorschriften transparent erfolgen müssen. Gesetzgeber und Behörden müssen ihre Entscheidungen rechtfertigen können und sie müssen der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Dieses Prinzip beinhaltet auch das Recht auf Leben ohne Diskriminierung, die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, und eine solide rechtliche Basis für alle Entscheidungen.
Ausgestattete Behörden
Die Regulierungsbehörden müssen über das Personal und die Mittel verfügen, um ein Regulierungssystem erfolgreich verwalten zu können. Dazu gehören regelmäßige unabhängige Überprüfungen und Bewertungen.
Angemessene Gewichtung wirtschaftlicher Ziele
Die wirtschaftlichen Ziele müssen in ein angemessenes Verhältnis zu den anderen Zielen wie Gesundheits‑, Umwelt‑, Verbraucher- und Anlegerschutz sowie Sicherheitsfragen gesetzt werden. Die Auswirkungen der Regulierung auf Wettbewerb, Innovation, Exporte, Kosten für die Einhaltung von Vorschriften und die Attraktivität für Handel und Investitionen müssen berücksichtigt werden.
Transform empfiehlt zur Neuausrichtung der Cannabispolitik die folgenden 7 Hauptziele:
- Achtung, Schutz und Förderung der Menschenrechte
- Schutz und Förderung der allgemeinen Gesundheit
- Förderung der sozialen Gerechtigkeit, Verbesserung der globalen Entwicklungsperspektiven und die Einbeziehung der Personen und Gruppen, die am stärksten von der Verbotspolitik benachteiligt wurden, in die Entwicklung von Gesetzen und öffentlichen Programmen
- Eindämmung von Kriminalität, Korruption und Gewalt im Zusammenhang mit dem illegalen Drogenhandel
- Schutz vor übermäßigem Einfluss der Privatwirtschaft auf die Gesetzgebung
- Begrenzung der Anreize, Gewinne aus problematischem Cannabisgebrauch zu erzielen
- Schutz junger und vulnerabler Personen vor möglichen Schäden
- Festlegung klarer Kennzahlen zur Messung von Entwicklungen und Bestimmung von Erfolg sowie die Einbindung von Evaluationsverfahren
Jedes dieser Hauptziele hat Unterziele, von denen viele im Buch näher erläutert werden. Um für die Politikgestaltung und ‑bewertung von Nutzen zu sein, müssen die Ziele mit aussagekräftigen und messbaren Kennzahlen verknüpft werden. Bereits vor der Öffnung des legalen Marktes sollten daher Ausgangswerte festgelegt werden, um Erfolge und Misserfolge genau messen zu können.
Die 7 Hauptziele sind in keiner bestimmten Reihenfolge aufgeführt, und ihre Gewichtung muss sich aus übergeordneten Notwendigkeiten und Schwerpunktsetzungen ergeben, wie zum Beispiel die Verringerung der Schäden durch den illegalen Cannabisanbau in Naturschutzgebieten (Environmentally Sensitive Areas, ESA) oder die Verringerung von rassistischen Ungleichheiten in der Strafjustiz. Die Ziele müssen stets sorgfältig ausbalanciert und bei Zielkonflikten mit Bedacht gewichtet werden.
Wie gleich in diesem Abschnitt erörtert wird, ist die Abwägung des Mittelweges zwischen widersprüchlichen Prioritäten ein entscheidender Schritt bei der Entwicklung der Struktur eines gesetzlichen Rahmens. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Interessengruppen frühzeitig zu identifizieren und in den Entscheidungsfindungsprozess einzubeziehen, einschließlich der Personen, die Cannabis gebrauchen, und anderer durch das Verbot geschädigte Personengruppen wie etwa Betroffene von Racial Profiling. Darüber hinaus wird jedes Land bei der Einführung einer Cannabis-Regulierung einige länderspezifische Bedingungen berücksichtigen müssen.
Die Art des Gesetzgebungsprozesses bringt bestimmte Anforderungen mit sich: So war die Einführung der Regulierungsmodelle in Washington und Colorado an den Wortlaut der verabschiedeten Gesetzesinitiativen gebunden, während in Kanada die Versprechen der gewählten Regierung ausschlaggebend waren.
Die jeweiligen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der regulierenden Länder und die internationalen Übereinkommen des Völkerrechts müssen miteinander verhandelt werden. Beispielsweise ist Cannabis in den USA auf Bundesebene nach wie vor illegal, was die Regulierungsmöglichkeiten der Bundesstaaten stark einschränkt. Dies hat zur Folge, dass Regulierungsmodelle mit staatlicher Produktion oder staatlichem Einzelhandel keine Option sind, da die Beschäftigten des US-Bundesstaates andernfalls gegen US-Bundesgesetze verstoßen würden.
In Spanien hat sich das Modell der Anbau-Clubs (sogenannte „Cannabis Social Clubs“) innerhalb der rechtlichen Grenzen der Entkriminalisierung (die eine nicht-kommerzielle Produktion und Abgabe erfordern) und unter Beachtung der UN-Verträge (die eine formell lizenzierte Abgabe untersagen) entwickelt.
Gesellschaftliche Bedenken sollten dabei nicht ignoriert werden. Der legale Verkauf von Cannabis kann ein umstrittenes Thema bleiben, und die Unterstützung für eine Regulierung kann von Ort zu Ort und von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe variieren, selbst wenn die Mehrheit der Einwohner*innen eines Landes für die legale regulierte Abgabe ist. In US-Bundesstaaten, in denen die Regulierung von Cannabis per Volksabstimmung beschlossen wurde, haben einige Gemeinden als Reaktion darauf beschlossen, den Einzelhandel in ihrem Zuständigkeitsbereich zu verbieten. Die Regierungen müssen sicherstellen, dass die Bedenken der Bevölkerung berücksichtigt werden, dürfen aber gleichzeitig nicht zulassen, dass sie die Ziele der Regulierung untergraben.
Es ist erforderlich, die Regulierung von Cannabis mit bestehenden Gesetzen und Vorschriften für andere Substanzen, Produkte und riskante Aktivitäten abzustimmen, zum Beispiel in Bezug auf den Umgang mit Giftstoffen, die Lebensmittelsicherheit, Arzneimittel oder den Straßenverkehr. Die Regulierung von Cannabis sollte sich zudem in allgemeinere Gesetze und Vorschriften einfügen, die für die Cannabiswirtschaft relevant sind, einschließlich jener, die vor Ausbeutung am Arbeitsplatz schützen.
Auch die Vereinbarkeit mit kulturellen und politischen Normen ist wichtig zu beachten. So ist zum Beispiel in den USA die Ablehnung staatlicher Eingriffe in den Markt größer als in vielen anderen Ländern, während andernorts die Ablehnung von Konzernen, die den Markt auf Kosten kleinerer, lokaler Unternehmen dominieren, vergleichsweise größer ist.
Die Regulierung muss überdies wirtschaftlich realistisch sein. Wenn die Anforderungen an die Umsetzung zu teuer sind, ist ein Modell nicht tragfähig.
Und die Regulierung muss letztlich politisch durchsetzbar sein. So war zum Beispiel die Entwicklung des eher restriktiven, staatlich kontrollierten Regulierungsmodells in Uruguay von der Erfordernis geprägt, die damals ablehnende Haltung der politischen Opposition, aus Nachbarländern und aus der Bevölkerung zu beschwichtigen.
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Man muss sich darüber im Klaren sein, dass eine gesetzliche Regulierung kein Allheilmittel für „das Drogenproblem“ ist. Eine Regulierung kann problematischen und schädlichen Cannabisgebrauch nicht komplett beenden und den illegalen Markt nicht vollständig ersetzen. Die Prohibition kann keine Welt ohne Drogen schaffen; Regulierungsmodelle können keine Welt ohne Schäden schaffen. Eine legale Regulierung zielt konkret darauf ab, die Schäden der Prohibition und durch den aus ihr hervorgegangenen illegalen Markt zu reduzieren oder zu beheben.
Es ist daher sinnvoll, zwischen zwei Aspekten der Reformbestrebungen zu unterscheiden. Zum einen geht es in Hinblick auf die negativen Folgen der bisherigen Drogenpolitik um die die Verringerung oder Beendigung der mit der Prohibition zusammenhängenden Probleme, vor allem die Kriminalisierung von Personen, die illegale Drogen gebrauchen, und die Probleme des unregulierten Marktes. Zum anderen geht es in Hinblick auf die positive Gestaltung zukünftiger politischer Rahmenbedingungen um das Erreichen von Zielen, wie sie in den 7 oben formulierten Hauptzielen für eine erfolgreiche Drogenpolitik nach einer Ära der Prohibition formuliert wurden.
Nach der Aufhebung des Cannabisverbots funktioniert die Cannabispolitik im Prinzip wie die Regulierung von Alkohol und Tabak. Mit Blick auf Fragen der allgemeinen Gesundheit sind die politischen Ziele und die Regulierungsinstrumente nahezu dieselben. Bei der Regulierung von Cannabis stehen jedoch weitere Ziele – und zwar die Förderung der sozialen Gerechtigkeit und der Schutz der Menschenrechte – deutlich stärker im Vordergrund als bei Tabak und Alkohol. Die Alkohol- und Tabakpolitik wurde in der jüngeren Vergangenheit nicht in dem Ausmaß als Instrument der Unterdrückung von Minderheiten eingesetzt wie die Cannabispolitik. Die Alkohol- und Tabakpolitik hat auch nicht die Kriminalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen oder das Phänomen der Masseninhaftierung in einigen Ländern begünstigt.
Eine Reform der Cannabispolitik kann nicht bei Null anfangen: Sie muss die verheerenden vorsätzlichen Schäden anerkennen, die vor allem Schwarze und Indigene Menschen, People of Color und Angehörige anderer Minderheiten sowie sozial und wirtschaftlich marginalisierte Bevölkerungsgruppen erlitten haben. Die Regulierung neuer Cannabismärkte muss darauf hinwirken, die durch die Prohibition verursachten Ungerechtigkeiten nicht zu wiederholen und fortzuschreiben. Die Cannabispolitik muss es sich zur Aufgabe machen, die historischen Schäden der Prohibition zu beheben und einen gleichberechtigten Zugang zu allen Vorteilen, die der neue Markt bieten wird, zu gewähren.
Darüber hinaus wird es immer wichtiger, Cannabis im Rahmen der gesamten Drogenpolitik zu betrachten und nicht isoliert als eine Art Sonderfall. Cannabis, Tabak und Alkohol sind Drogen, die als Genussmittel verwendet werden und jeweils unterschiedliche Risikoprofile aufweisen. Der fortschreitende Prozess der Entwicklung erfolgreicher Regulierungsmodelle für den Cannabismarkt spiegelt sich auch im Prozess der Verbesserung der Regulierungsmodelle für Alkohol und Tabak wider – und es ist folgerichtig und logisch, für beides zu plädieren. Sobald sich die Debatte über die Reform der Drogenpolitik über Cannabis hinweg weiterentwickelt, werden diese Überlegungen entsprechend auch andere Drogen, einschließlich Psychedelika, Stimulanzien und Beruhigungsmittel, einschließen müssen.
Um den allgemeinen Herausforderungen des schädlichen Gebrauchs von Cannabis und anderen Drogen wirksam zu begegnen, müssen Aufklärung, Prävention, Behandlung und Therapie sowie Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut, Ungleichheit, sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung verbessert werden. Durch die Umsetzung von Regulierungsmodellen, die auf klar kommunizierbaren und umfassenden politischen Zielen und Grundsätzen beruhen, sowie durch die Beseitigung politischer und institutioneller Hindernisse, durch die Freisetzung von Ressourcen für evidenzbasierte Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung und für sozialpolitische Interventionen kann die legale Regulierung langfristig zu besseren Ergebnissen in der Drogenpolitik führen. Reformen können somit nicht nur die Schäden der Prohibition eindämmen, sondern auch zusätzliche Türen öffnen und sich positiv auswirken.
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