Liebe Mitunterstützenden, Besucher und Besucherinnen dieses Gedenktags, liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen von JES und BERLUN, sehr geehrte Professionelle,
mein Name ist Marc Seidel, ich bin mittlerweile seit 25 Jahren substituiert, seit 20 Jahren Mitglied im bundesweiten Selbsthilfenetzwerk JES und jetzt seit ca. 5 Jahren bei JES-Berlin.
Heute ist der Internationale Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende. Ein Tag, an dem wir uns an diejenigen erinnern, die durch die Umstände ihres Drogengebrauchs in Deutschland ihr Leben verloren haben. Ein Tag, an dem wir auch die Frage stellen müssen: Warum mussten sie sterben? Warum konnte ihnen niemand helfen? Hat der Staat versagt, und wenn, warum? Zum diesjährigen Motto des Gedenktags, „Drogentod ist Staatsversagen“ habe ich im Vorfeld öfter gehört, „Staatsversagen, ist das nicht ein wenig zu hart in der heutigen Zeit? Verändert sich in Deutschland nicht gerade einiges in der Drogenpolitik? Gibt es nicht mittlerweile schon Drogenkonsumräume und Drugchecking? Wird nicht sogar gerade Cannabis in Deutschland legalisiert?“. Entscheidend ist doch, was hinten rauskommt!
Ich möchte nur ein paar wenige Zahlen nennen, die zeigen, dass der Anstieg bei den Drogentoten in Deutschland kein Zufall ist, sondern das Ergebnis einer bis heute grundsätzlich verfehlten Drogenpolitik, die auf Repression statt auf sinnvolle Prävention, Hilfe und Aufklärung setzt.
Laut dem Bundeskriminalamt gab es im Jahr 2022 insgesamt 1.986 Todesfälle durch illegale Drogen. Das ist ein Anstieg von 9,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der höchste Wert seit 1999. Alleine hier in Berlin gab es letztes Jahr 230 „offizielle“ Drogentote. Die meisten Opfer starben an einer Überdosis von Opioiden wie Heroin oder Fentanyl, gefolgt von Kokain und Amphetaminen.
Diese Zahlen sind erschreckend, aber sie sind natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn sie erfassen nicht die vielen Menschen, die an den Folgen ihres Drogenkonsums leiden, wie zum Beispiel Hepatitis, HIV, psychische Erkrankungen oder soziale Ausgrenzung und z.T. daran versterben. Sie erfassen auch nicht die vielen Menschen, die sich in einem Teufelskreis aus Abhängigkeit, Kriminalität und Armut befinden, weil sie keinen Zugang zu einer qualifizierten Suchtbehandlung haben, wie insbesondere im ländlichen Raum und im Süden Deutschlands. Eine gut funktionierende Substitutionstherapie eröffnet für viele erst Handlungsoptionen, überhaupt irgendetwas positiv für sich verändern zu können.
Wie kann es sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland so viele Menschen an illegalen Drogen sterben oder unter den Umständen des Konsums leiden? Für mich zumindest ist die Antwort klar: Weil der Staat an dieser Stelle versagt. Weil er nach wie vor lieber viele Millionen für die Verfolgung von Drogengebrauchenden ausgibt, als für die Prävention von Drogenmissbrauch und die Unterstützung von Drogenabhängigen. Weil er vielfach immer noch lieber auf moralische Verurteilung statt auf wissenschaftliche Erkenntnisse setzt. Weil er lieber an einer gescheiterten Prohibition festhält, als alternative Modelle zu erproben. Man könnte ja mal auch aus der Geschichte lernen.
Die mehr als berechtigte Forderung u.a. von der Mehrheit der deutschen Strafrechtsprofessoren und ‑professorinnen, das deutsche Betäubungsmittelgesetz von einem Fachgremium daraufhin überprüfen zu lassen, ob mit seiner Hilfe die gewünschten Effekte erreicht werden und inwiefern unerwünschte Kollateralschäden entstehen, steht nach wie vor im Raum.
Da ist zum Beispiel die derzeitige restriktive Gesetzgebung, die den Besitz und Konsum von Drogen unter Strafe stellt, statt sie zu entkriminalisieren oder zu regulieren. Diese Gesetzgebung schafft nur mehr Kriminalität, Gewalt und Unsicherheit für die Drogengebrauchenden, die sich ständig vor Verfolgung und Bestrafung fürchten müssen.
Es gibt viele Beispiele aus anderen Ländern, die zeigen, dass es auch anders geht. Länder wie Portugal, Kanada oder Uruguay haben den Besitz und Konsum von bestimmten Drogen entkriminalisiert oder legalisiert und setzen auf eine humane und evidenzbasierte Drogenpolitik, die den Menschen hilft statt sie zu bestrafen. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Weniger Drogentote, weniger Infektionskrankheiten, weniger Kriminalität, mehr soziale Integration.
Wir können und wollen nicht länger zusehen, wie der Staat seine Verantwortung und Fürsorgepflicht für die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Bürgerinnen und Bürger ignoriert. Wir müssen gemeinsam Druck machen für eine radikale Zeitenwende in der Drogenpolitik in Deutschland. Eine Reform, die auf Menschenrechte, Mitgefühl und Vernunft basiert. Eine Reform, die Leben rettet, statt sie zu zerstören. Da ist zum Beispiel die mangelnde Unterstützung für harm reduction Maßnahmen wie Spritzenaustauschprogramme, Drogenkonsumräume oder Naloxon-Verteilung, die das Risiko von Infektionen oder Überdosierungen senken könnten. Diese Maßnahmen werden oft von der Politik ignoriert oder bekämpft, statt sie zu fördern oder auszuweiten.
All diese Beispiele zeigen, dass der Staat nicht nur zu wenig tut, um die Drogentoten zu verhindern, sondern sogar aktiv dazu beiträgt, dass sie sterben. Das ist ein Skandal, der uns alle angeht. Denn es geht hier nicht nur um Zahlen oder Statistiken. Es geht hier um Menschen wie du und ich. Menschen mit Träumen und Hoffnungen, mit Familien und Freunden. Menschen mit Problemen und Schwächen. Menschen mit Rechten und Würde.
Diese Menschen verdienen unser Mitgefühl und unsere Solidarität. Sie verdienen unsere Anerkennung und unseren Respekt. Sie verdienen unsere Hilfe und unsere Fürsprache. Sie verdienen eine andere Politik und eine andere Gesellschaft.
Deshalb sind wir heute hier. Um ihrer zu gedenken. Um für sie zu kämpfen und um ihnen eine Stimme zu geben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zum Weiterlesen:
Marc Seidel (Gastbeitrag): „Zur Wohnsituation Drogengebrauchender und Substituierter in Städten“
Beate Stör (Gastbeitrag): Beate Stör: “Du” – Gedicht zum Gedenktag 2023
Philine Edbauer (MBMC Redebeitrag): Zum Gedenktag: “Sorgloser Drogengebrauch ist ein Privileg.”
Julia Meisner (MBMC Hintergrundartikel): Drogentod ist kein konsumbedingtes Problem – sondern ein politisches.
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