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Bild: Tim Cooper (Unsplash)

Opioidkrise in Deutschland?

Eine Einschätzung angesichts nationaler und internationaler Entwicklungen von Maria Kuban.

Dieser Artikel erschien zuerst im Drogenkurier, dem Magazin des JES-​Bundesverbands. Wir danken dem JES-​Bundesverband für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Alle Ausgaben des Drogenkuriers und das Bestellformular fürs Abo finden sich hier. Alle Ausgaben stehen zudem kostenlos als PDF-​Download zur Verfügung. Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 137, hier vollständig gelesen werden kann.


Das Titelthema kommt sicherlich auch für unsere Leser*innen nicht aus dem Nichts. In den letzten Wochen, Monaten und Jahren häufen sich Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehbeiträge zur Opioidkrise in den USA, in Kanada und zur Frage, ob uns in Deutschland und Europa Ähnliches droht. Es werden Menschen in gebückter Haltung und schlechter körperlicher und psychischer Verfassung gezeigt, die in Gruppen und großen offenen Drogenszenen teilweise das Stadtbild US-​amerikanischer oder kanadischer Städte wie Philadelphia oder Vancouver prägen.

Es ist (leider) von Horror- oder „Zom­bie“-Droge, katastrophalen Zuständen und der sogenannten „Opioid“-Krise die Rede. Wir sind über diese Bilder nicht glücklich, da sie die Menschen einseitig und abwertend darstellen und mit Angst arbeiten. Aber ernst nehmen sollten wir das trotzdem – nur wie ernst?

Es häufen sich Hinweise – wie z. B. Funde von illegal hergestellten Fentanyl im Heroin – sowie Entwicklungen in Afghanistan die uns zur Wachsamkeit mahnen und uns aktiv werden lassen sollten.

Eines vorweg: Aktuell deutet sich keine Situation wie in Kanada an.

Wir haben uns mit dem Bundesmodellprojekt RAFT zum Vorkommen von Fentanyl im Straßenheroin in 7 Städten im letzten Jahr gewidmet. Unsere Erkenntnisse daraus fassen wir auf den nächsten Seiten zusammen. Was es sonst noch für Gründe zur Besorgnis und Handelsaufträge gibt, könnt ihr hier nachlesen:

Reduzierter Opiumanbau in Afghanistan

Schon 2022 haben mit ihrer Machtübernahme die Taliban angekündigt, den Opiumanbau in Afghanistan drastisch einzuschränken. Im letzten Jahr hat sich über vereinzelte Satellitenbilder bereits gezeigt, dass in einschlägigen Gebieten (v. a. in der Provinz Helmand) Opiumfelder bereits durch Weizenfelder ersetzt wurden. Wir haben das trotzdem eher vorsichtig als Anzeichen für eine tatsächliche Reduktion des Exports gesehen. In 2001 ist so etwas schon mal passiert und hatte langfristig (außer in Estland) kaum Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Heroin in Europa.

Heute ist es allerdings so, dass 95 % des Heroins, das in Europa auf dem Schwarzmarkt verfügbar ist, aus Afghanistan kommt.

Anfang 2024 hat das Büro für Drogen und Kriminalität der Vereinten Nationen (UNODC) bekannt gegeben, dass im Jahr 2023 nur 5 % der Menge an Opium aus dem Vorjahr angebaut und als Heroin exportiert wurde.

 

Und was hat das mit Fentanyl zu tun? Eine Verknappung von Heroin – egal aus welchen Gründen – wird nicht zu einer Verringerung der Nachfrage führen. An den Platz werden also andere Opioide rücken, denn Fentanyl, Nitazen und Co. sind zwar deutlich stärker und deshalb auch gefährlicher, wirken aber im Körper gleich und sind deshalb für Konsument*innen und Dealer*innen eine Alternative!

Fentanyl – das Wichtigste in Kürze:

» Fentanyl ist ein synthetisches Opioid und immer um ein Vielfaches stärker als Heroin. Das Risiko für opioidbedingte Not- und Todesfälle steigt beim Konsum drastisch. Die tödliche Dosis Fentanyl bei opiatnaiven Menschen liegt bei 2mg, zum Vergleich liegt sie bei Heroin bei 200mg. Fentanyl (als Droge) ist daher kaum sicher dosierbar. Wenn Konsumierende nichts davon wissen, dass z. B. ihr Heroin Fentanyl enthält, sind sie oft in Lebensgefahr

» In Kanada, USA und Estland ist oder war Fentanyl für zehntausende Drogentodesfälle (mit)verantwortlich, in Deutschland in den letzten 2 Jahren an knapp 200 Todesfällen beteiligt. Zudem gab es in den letzten Monaten besorgniserregende Berichte aus Irland und Großbritannien. Synthetische Opioide waren hier (mit)verantwortlich für tödliche und nicht-​tödliche Überdosierungen.

» Fentanyl gibt es in zwei verschiedenen Formen:

1. Als Pharmazeutikum zur Schmerzbehandlung nach Operationen (z. B. als Pflaster)

2. Als illegal hergestelltes Opioid, das gezielt konsumiert oder Heroin beigemengt wird (z. B. als Pulver oder Granulat)

Illegal hergestelltes Fentanyl – Wer hat daran Interesse?

Fentanyl ist hochpotent und bedeutend stärker als Heroin. Deshalb sind nur sehr kleine Mengen nötig um die gleiche Wirkung zu erzeugen. Somit müssen auch viel kleinere Mengen hergestellt und geschmuggelt werden. Statt 100kg ist nur 1kg nötig – und das lässt sich schon deutlich leichter über Landesgrenzen in Schiffen, Containern oder auf LKWs transportieren. Zur Herstellung selbst genügen wenige Chemikalien und kleine Labore. So entstanden in den frühen 2000er Jahren in Estland in kurzem Zeitraum viele Labore.

Besorgniserregende Nachrichten und Funde in Deutschland und Europa in den letzten Monaten

Seit Mitte 2023, als das Projekt RaFT in vollem Gange war, verdichtetenn sich auch die Hinweise aus unserer mittel- und unmittelbaren Nachbarschaft auf ein erhöhtes Vorkommen von synthetischen Opioiden:

  • In München wurde vom LKA eine Probe Heroin beschlagnahmt, in der das Elefantenbetäubungsmittel Carfentanyl gefunden wurde.
  • In Hamburg wurde vom LKA Heroin beschlagnahmt, das mit Fentanyl versetzt war.
  • Im DrugChecking-​Projekt in Basel (Schweiz) wurde ebenso eine solche Probe gefunden.
  • INTERPOL (Internationale Organisation der Kriminalpolizei) warnt gegenüber der „Welt am Sonntag“ vor einem erhöhten Fentanyl-​Vorkommen in Europa.
  • In Dublin (Irland) wurde im Herbst 2023 in 54 Heroin-​Proben Nitazen nachgewiesen. Nitazene sind starke synthetische Opioide, die niemals für die Humanmedizin zugelassen wurden.
  • In Birmingham (UK) starben im gleichen Zeitraum 30 Menschen an einer Überdosierung, da Heroin mit Nitazen oder Xylazin vermischt war. Xylazin ist ein Tranquilizer (kein Opioid, aber ein starkes Betäubungsmittel)
  • In Cork (Irland) erlitten 17 Personen im Dezember 2023 eine Überdosierung (nicht tödlich) durch Nitazen. Hier gibt’s jetzt sogar Straßenschilder, die darauf hinweisen.

Diese Ereignisse zeigen unserer Ansicht nach, dass es nicht bei Einzelfällen bleiben könnte und jetzt umgehend abgestimmte Maßnahmen erforderlich sind.

Was kann man jetzt machen?

Wir müssen aufmerksam bleiben und handeln! Das gilt vor allem für die Bundesregierung, die Länder und Kommunen.

Konkret gilt es nun:

» niedrigschwellige Testangebote (z. B. mit Schnelltests, wie bei RaFT) in Einrichtungen der Drogenhilfe zu implementieren

» ein bundesweites Monitoring aufzusetzen (um Erkenntnisse zum Vorkommen zu gewinnen und ein Früh-​Warn-​System für Konsument*innen einzurichten)

» einen vereinfachten Zugang zu Naloxon und Substitution einzurichten

» Beratung und Information von Einrichtungen und Konsu­ment*innen zu verbessern und auszuweiten

» Drug-​Checking-​Angebote einzurichten.


Über die Autorin:

Maria Kuban leitet als Mitarbeiterin der Deutschen Aidshilfe e.V. das Projekt „RaFT Rapid Fentanyl Testing in Drogenkonsumräumen und Veranstaltungen“.

Über den Drogenkurier:

Seit 1990 informiert das Magazin über aktuelle Entwicklungen in den Bereichen „Leben mit Drogen“, Medizin, Fortbildungen und Medien. Alle Ausgaben und weiteren Informationen sind hier kostenlos als PDF abrufbar und im Print-​Abo bestellbar.

Über den JES-​Bundesverband e.V.:

JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) ist ein bundesweites Netzwerk von Gruppen, Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen, die sich unter dem gemeinsamen Dach des JES Bundesverbands für die Interessen und Bedürfnisse Drogen gebrauchender Menschen engagieren. Weitere Infos hier

 

 

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