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Bild: Vitor Fontes (Unsplash)

Zur Wohnsituation Drogengebrauchender und Substituierter in Städten

Marc Seidel engagiert sich mit dem Selbsthilfenetzwerk JES Berlin für die Interessen und Bedürfnisse von Menschen, die illegale Drogen nehmen; neben der Entkriminalisierung bspw. für das Recht auf den Zugang zu Substitutionsbehandlung. In seinem Redebeitrag zum Gedenktag für die verstorbenen Drogengebraucher_​innen 2022 legte er spezifische Auswirkungen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf marginalisierte Drogengebraucher*innen dar – ein Thema, an dem man bei der Analyse der steigenden Todesfälle nicht vorbeikommt. JES Berlin gehört zu den Organisator*innen der jährlichen Gedenk- und Protestveranstaltung am Kottbusser Tor-​Berlin. Wir freuen uns, Marc Seidels Beitrag veröffentlichen zu dürfen!

Liebe Mitunterstützenden, Besucher und Besucherinnen dieses Gedenktags, liebe Mitstreiter von JES und BerLUN, sehr geehrte Professionelle,

mein Name ist Marc Seidel, ich bin 53 Jahre alt, seit 25 Jahren substituiert, seit knapp 20 Jahren Mitglied im bundesweiten Selbsthilfenetzwerk JES und jetzt seit ca. 5 Jahren bei JES Berlin.

Als ich anfing, mich mit dem Thema der Wohnsituation Drogengebrauchender und Substituierter auseinanderzusetzen, fiel mir auf, wie schwer es für mich war, an valide aktuelle aussagekräftige Daten dafür zu gelangen. Vor gut 2 Wochen bin ich dann noch an Corona erkrankt und aus der Idee eines Beitrags auf der Grundlage mit Experten geführter Interviews werden so jetzt eher ein paar allgemeine Gedanken aus der Perspektive eines wohnungslosen, aber durchaus nicht obdachlosen Substituierten, der das Glück hat, schon mehrere Jahre in einer Wohnung eines größeren Berliner Drogenhilfeträgers wohnen zu dürfen.

Was bedeutet es eigentlich für einen Menschen, in seiner eigenen Wohnung leben zu können?

Mir gefällt der Vergleich der eigenen vier Wände mit einer “dritten Haut”, wenn man die Kleidung als “zweite Haut” ansieht.

Die Wohnung als “dritte Haut” schützt vor mehr als schlechtem Wetter, sie spiegelt u.a. Geschmack, Träume, Wünsche und Befinden der Wohnenden und ermöglicht eine gewisse Kontrolle über den Zugang zu und Erreichbarkeit von uns. Sie kann als Refugium Geborgenheit und für viele nach vielleicht längerer Zeit wieder ein gewisses Gefühl von Sicherheit geben. Manche benötigen zuerst eine Wohnung: als Raum, als sichere Basis und als Ausgangsbasis für die Vorstellung einer eigenen, selbst gestalteten Zukunft und daraufhin zielende Pläne und Handlungen. Zunehmende Wohnraumprobleme haben negative Konsequenzen auf Möglichkeiten einer Lebensgestaltung, dem Vorhandensein und der Gestaltung einer als sinnvoll erlebten Tagesstruktur und auf die Chancen eines Mindestmaßes an sozialer Teilhabe.

Aus einer Substitution mit über Jahre täglich durchgeführter Sichtvergabe in Niedersachsen überhaupt wieder in meine alte Heimat Berlin zurückkehren zu können war überaus schwierig und hat Dank der nicht besonders zielführenden Hilfe von Drogenberatung, PSB (Psychosoziale Betreuung), Substitutionspraxis und Jobcenter auch etliche Jahre gedauert.

An eine realistische Alternative zu einem Wohnprojekt für Substituierte war damals gar nicht zu denken. Wie sollte man mit täglicher Substitutionsvergabe auch selbst vor Ort eine Wohnung suchen oder Besichtigungen durchführen? Auch mit Schufa, Bürgschaften, Arbeitsverträgen, bereitliegender Mietkaution etc., sieht es bei vielen von uns zumeist, wie auch bei mir selbst, eher ziemlich mau aus.

Viele von uns haben aufgrund der Lebensbedingungen, mit denen wir es als Drogengebrauchende und Substituierte aufgrund von Stigmatisierung und Kriminalisierung zu tun haben, größere Brüche in ihren Lebensbiographien, viele haben die Unterstützung ihrer Angehörigen und ihres sozialen Umfeldes verloren, viele Hafterfahrung machen müssen, viele ihre Arbeit eingebüßt, manche entscheiden sich für einen Umfeldwechsel und lassen sich auf eine Langzeittherapie ein. Aus diesen oder vielen anderen Gründen haben viele von uns schon einmal, oder oft auch mehrfach, ihre Wohnung und auch oft ihr ganzes Hab und Gut verloren.

Dies zu verarbeiten, damit umzugehen und irgendwann wieder einmal zu einer eigenen Wohnung für ein wieder weitgehend selbstbestimmtes Leben zu kommen, ist für viele von uns ein langer steiniger Weg, den bis zum glücklichen Ende zu gehen, viele von uns ohne Hilfe gar nicht schaffen.

Eine Möglichkeit, damit umzugehen, stellen sicherlich die Wohnprojekte des Betreuten Wohnens für Substituierte und Drogengebrauchende dar. Ich beispielsweise profitiere momentan selbst in vielfältiger Weise davon, darüber vorerst eine Wohnung nutzen zu können. Ich bekam dadurch den Zugang zu wesentlich besseren Substitutionsbedingungen als in der Provinz, eine vorläufig gewünschte Anbindung an das professionelle Hilfesystem, die Chance, eine Berufsausbildung machen zu können und nach langer Zeit auch wieder einmal Angehörige, Freunde und Bekannte zu mir einladen, empfangen oder auch einmal wieder als Gäste bei mir beherbergen zu können. Diese und noch einige Aspekte mehr haben mich zunehmend wieder zunehmend stabilisiert und mir daher wieder neue Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft eröffnet.

Das Problem ist, der irgendwann notwendige Schritt, hier in Berlin auf dem offenen Wohnungsmarkt eine eigene Wohnung zu finden, möglichst gar in der Nähe des gewohnten Kiezes, der Substitutionspraxis, des Wohnprojektes und deren Bewohner, der vertrauten Nachbarn, erscheint mir doch als sehr einschüchternd und so wenig aussichtsreich wie erfolgversprechend, was derzeit aber auch für so gut wie jede Wohnlage hier in Berlin zutrifft. Von der ganzen Zeit in meinem Wohnprojekt weiß ich persönlich nur von 2 Personen, die hinterher direkt in eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag gezogen sind. Eine davon war in Dresden, und die andere im schönen Plattenbau am Rande Berlins, beide jedenfalls recht weit weg vom Neuköllner Kiez und dem Wohnprojekt.
Aber immerhin.

Die meisten anderen dürften andere Wege genommen haben, manche sind wahrscheinlich obdachlos, manche sicherlich erstmal irgendwo bei Angehörigen und Bekannten untergekommen und manche in andere Formen des Hilfesystems gewechselt. Sie haben eine Therapie aufgenommen oder sind in andere betreute Wohnformen für Substituierte und Drogen.
Sie sind sozusagen von einer Trägerwohnung in die nächste gewechselt.

Früher konnten bei manchen Wohnprojekten am Ende bei entsprechender Stabilisierung und Wohlverhalten der Klienten die Mietverträge der Wohnungen durch sie übernommen werden. kann derzeit natürlich bei der aktuellen Wohnlage keine Rede mehr sein.

Auch die Wohnprojekte kämpfen mittlerweile erbittert um jede einzelne Wohnung für ihre Klienten. Mein Wohnprojekt hat es gerade geschafft, mehrere neue Wohnungen für seinen Bestand zu gewinnen, was mich einerseits sehr freut, mir dabei aber zum Teil auch gewisse Bedenken in den Sinn kommen.

Es muss für uns, wie für alle anderen, das einforderbare Recht auf Wohnen und Lebensraum erstritten, aber halt auch in der Praxis durchgesetzt werden, z.B. indem größere Kontingente an Wohnraum für sozial Bedürftige, auch bei Neubauten, requiriert werden.

Es darf nicht darauf hinauslaufen, dass sich zunehmend immer mehr Substituierte und Drogengebrauchende immer länger in einem immer größeren Hamsterrad aus Trägerwohnungen drehen und somit zwar vielleicht von der Straße verschwinden, sie ihr unter Umständen schwer erarbeitetes neues Leben aber nicht nachhaltig in einer eigenen Wohnung fortsetzen können.

Durch den Krieg in der Ukraine sind jetzt auch noch viele Flüchtlinge, darunter viele Frauen und Kinder, insbesondere hier nach Berlin gekommen und haben die Konkurrenzsituation für uns Substituierte und Drogengebrauchende auf dem eh schon kaum vorhandenen offenen Wohnungsmarkt für bezahlbaren Wohnraum noch einmal drastisch verschärft. Wir sollten sehr aufpassen, dass wir, uns nicht gegen andere bedürftige und prekäre Gruppen ausspielen lassen.

Also müssen wir darauf achten und im Blick behalten, dass wir Drogengebrauchenden und Substituierten nicht zu den großen Verlierern im Kampf um den seit Jahrzehnten auf politischen Druck und Willen hin künstlich verknappten bezahlbaren Mietwohnraum werden und am Ende zunehmend in irgendwelchen Wohnprojekten landen oder irgendwo nach j.w.d. abgeschoben werden.

Und wie absurd und kontraproduktiv es wäre, für viel teures Geld der Gesellschaft über Jahre in Wohnprojekten wieder weitgehend rehabilitierte und wiedereingegliederte Menschen in Obdachlosigkeit, Zeltstädte oder Notübernachtungssammelunterkünfte entlassen zu müssen, sollte doch eigentlich allen einleuchten.

Und auch, dass nicht alle Drogengebrauchenden und Substituierten auf Dauer einer intensiven, personal- und kostenaufwändigen, professionellen Betreuung durch ein Wohnprojekt bedürfen, dass aber auch nicht die Obdachlosigkeit die Alternative sein kann.

Ich fürchte, wenn wir nicht aufpassen, könnte es in Zukunft sogar erstmal noch schlimmer werden, bevor es irgendwann wieder mal besser wird.

Also, lasst uns für bezahlbaren Wohnraum für alle und das einforderbare Grundrecht auf Wohnen eintreten und kämpfen.

Die Häuser denen, die drin Wohnen!

Vielen Dank.


Fragen? Anmerkungen?

Fragen und Kommentare für Marc Seidel leiten wir gerne weiter. Oder kontaktiere JES Berlin.

Zum Weiterlesen:

Grundlegende Informationen über Wohnungs- und Obdachlosigkeit im Allgemeinen findet man bspw. auf der Website der Diakonie.

Unser Hintergrundartikel über Drogentod im Blog: „Drogentod ist kein konsumbedingtes Problem – sondern ein politisches.“

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