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Zum Gedenktag: „Sorgloser Drogengebrauch ist ein Privileg.“

Der Redebeitrag von Philine Edbauer (MBMC Initiative) zum Gedenk- und Aktionstag 21. Juli für verstorbene Drogengebrauchende 2023 am Kottbusser Tor, Berlin

Heute ist ein Tag für Sichtbarkeit.

Die ersten 20 Jahre meines Lebens wurde ich praktisch nicht gesehen. Ich hätte genauso gut nicht geboren werden können und kein Erwachsener hätte mich damals, als die dich ich bin, vermisst. Es ist emotionale Einsamkeit, mit der manche Menschen in diese Welt eintreten. Ich habe Freund*innen in Gleichaltrigen gefunden. Die Erwachsenen, diejenigen, die die Regeln machen, haben mich zusehends meinem Schicksal überlassen. Und das muss man als Kind erst einmal verstehen lernen. Verstehen lernen, während Angst und Zweifel ein Dauerzustand sind. Kinder, die so oder ähnlich aufwachsen, eignen sich unterschiedliche Bewältigungsstrategien an, um durchzuhalten, um zu überleben. Eine davon kann Drogengebrauch sein. Drogen sind nicht gleich Drogen. Manche eignen sich eher zur Linderung von seelischen und körperlichen Schmerzen, andere mehr für soziale Zwecke. Manche für beides.

Drogengebrauch ist Teil der Geselligkeit, Teil der Kultur, Teil des Zusammenlebens. Drogen sind überall, egal wie intensiv die Maßnahmen eines Staates oder eines Gefängnisdirektors auch sein mögen. Autoritäre Drogenpolitik führt nicht zu einer geringeren Verfügbarkeit von Drogen. Die meisten Menschen konsumieren ihr Leben lang mal mehr, mal weniger häufig Drogen, ohne groß darüber nachzudenken zu müssen. Drogenkonsum ist für die meisten Menschen in erster Linie ein Vergnügen oder eine abenteuerliche Phase. Die Wirkung von Drogen kann durchwegs positiv funktionieren und wird von den meisten Menschen die meiste Zeit nicht genutzt, um einen erträglichen Normalzustand zu erreichen oder Entzugserscheinungen zu lindern. Sorgloser, zwangloser Drogengebrauch ist ein Privileg. Menschen, die infolge von Kindheitstraumata, Perspektivlosigkeit, Prekarisierung, Vereinsamung, fehlender oder falscher medizinischer Versorgung oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten mit einer oder mehreren Substanzen haben, haben dieses Privileg des sorglosen Gebrauchs einer oder mehrerer Substanzen nicht.

Ich finde es unsäglich, dass Menschen, deren Kindheit darin bestand oder aktuell darin besteht, mit Hilfe von illegalen Drogen, Drogen die trotz oder wegen des Verbots überall verfügbar sind, eine Bewältigungsstrategie zu entwickeln, um durchzuhalten, um zu überleben, Menschen, die durch die Lücken der Hilfsangebote fallen, ein Hilfesystem, das gerade zusätzlich von Sparpolitik bedroht und seit Jahren längst von Sparpolitik betroffen ist, wirksame Hilfsangebote, die in vielen Regionen Deutschlands gar nicht erst zugänglich sind und deren Existenz auch noch gegenüber Aussagen wie „selbst schuld, hätten sie mal keine Drogen genommen“ gerechtfertigt werden muss, dass diese Menschen in unserer Gesellschaft zusätzlich von der Polizei verfolgt werden. Die strafrechtliche Verfolgung von Drogenbesitz durch Polizei und Staatsanwaltschaften ist keine theoretische Angelegenheit, sie ist Tag für Tag gelebte Realität.

Wir haben unsere 13 Forderungen für eine umfassende und lückenlose Entkriminalisierung von Menschen, die illegale Drogen nehmen, um einen Anhang über die Menschenrechte ergänzt. Menschenrechte sind offensichtlich in einer Krise. Aber sie sind formuliert worden und gelten nach wie vor als Maßstab. Es gibt mehrere internationale Verträge, die auch Deutschland und die EU unterzeichnet haben. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns die Menschenrechte in einer aktuellen Debatte absprechen zu lassen, in der immer wieder zynisch eingeworfen wird, dass sie sowieso nicht gelten würden. Menschenrechte sind ein gemeinsames Verständnis. Sie sind eine gemeinsame Sprache. Mit dieser gemeinsamen Sprache können wir deutlich machen, dass die aktuelle Drogenpolitik, die internationale und die deutsche, in Bezug auf alle illegalen Drogen ein Problem hat. Wir und die Lebenswege unserer Freund*innen und der Verstorbenen, unsere Erfahrungen, unser Wissen sind der Beweis, dass Menschenrechte, darunter das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Privatsphäre, mit der Politik der Strafverfolgung verletzt werden.

Die Tendenz der Menschenrechte ist nicht, dass sie weniger gelten, sondern dass die Kluft, für wen sie gelten und für wen nicht, größer wird. Drogenpolitik ist ein Instrument – in manchen Staaten der Welt mehr, in anderen weniger – das moralische Vorstellung über für die Gesellschaft gute und schädliche Menschen, verschärft. Drogenpolitik verschärft die Kluft zwischen Menschen, die von der Polizei geschützt werden, und zwar vor den anderen, den Kriminellen, die dieses Recht angeblich verwirkt hätten.

Auch Menschen, die illegale Drogen nehmen, sollten in Notsituationen, in Gewaltsituationen, in denen sie Hilfe brauchen, die Polizei rufen können und von ihr den ihnen zustehenden Schutz erhalten. Die Polizei wegen ignoranten Drogengesetzen nicht verfügbar zu haben, ist eine weitere alltägliche Strafe.

Menschen, die illegale Drogen nehmen, verfügen über Wissen, über das Politiker*innen und Menschen mit anderen beruflichen Karrieren in der Regel nicht verfügen. Weil ihre Karrieren nicht durch Polizeikontakt, ungerechtfertigtem Führerscheinentzug, oder Sucht, oder Panik im Schulsystem oder in der Familie oder wegen verschiedenen Formen von Diskriminierungen unterbrochen wurden. Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen des Gesundheits- und Suchthilfesystems müssen nicht unser Wissen haben. Aber sie müssen uns in aller Vielfalt ernsthaft an den Tisch holen, wenn sie über Drogen diskutieren und entscheiden.

Mit den 13 Forderungen haben wir Vorarbeit für Politik und die gesellschaftliche Debatte geleistet, wir haben das Wissen um eine lückenlose Entkriminalisierung vereint. Unser Wissen über ein solidarischeres Zusammenleben, um eine stabilere, solidarischere Gesellschaft, um wirksame Gesundheitsleistungen, über die Reduzierung von Drogentod, unser Wissen für eine Gesellschaft, in der die Polizei sich um die Dinge kümmert, die wirklich ein Problem sind, eine Gesellschaft, die Benachteiligte nicht zusätzlich für Bewältigungsstrategien mit Drogen bestraft oder sei es die simple Entscheidung für eine illegale statt legale Droge, unser Wissen für eine Gesellschaft, die Menschen nicht wegen Drogengebrauch moralisch abwertet. Eine Gesellschaft, die sich nicht mit einer Drogenpolitik belastet, die im völligen Widerspruch zu dem steht, was für uns und unser Umfeld, unsere Lebenserfahrungen, unser Leben und Zusammenleben als Menschen sinnvoll ist.

Heute ist ein Tag für Sichtbarkeit. Viele der hier Anwesenden arbeiten das ganze Jahr daran, mehr Sichtbarkeit, mehr Normalität zu erreichen und ich glaube, wir kommen damit gut voran. Dem kann man sich anschließen, da sollte man hinsehen.


Kleinere Überarbeitungen des Texts am 31.7.23.

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