Der Bericht
Wahrnehmung erfolgt selektiv. Jeder Mensch beschreibt erlebte Geschichte subjektiv, aus seinem Blickwinkel und Erfahrungshorizont heraus. Zeitzeugen können ganz unterschiedliche, teils sich scheinbar widersprechende Realitäten zur Sprache bringen. Sie haben als Arbeitsmedium ihre Erinnerungen und diese sind in der Regel durch persönliche Situationen und Erfahrungen gefärbt. Wenn von der DDR die Rede ist, dann bedeutet „Zeitzeuge sein“ nichts anderes, als dass jemand DDR-Geschichte in direktem Kontakt kennengelernt hat. Und so sind Stasioffiziere ebenso Zeitzeugen wie politisch Verfolgte, westdeutsche Journalisten, die in Ostberlin gearbeitet haben, ebenso wie eine alleinerziehende Mutter aus einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. So unterschiedlich die Protagonisten, so verschieden dann auch ihre Beschreibung dessen, was die DDR war.
„Meine DDR“ war von Jugend an eine andere Welt. Sie war anders als der vom poststalinistischen Mainstream propagierte realsozialistische Alltag und auch anders als der heile Zufluchtsraum selbstgewählter bürgerlicher Nischen. „Meine DDR“ war bevölkert mit Leuten, die unangepasst und eigensinnig nach eigenen Lebensentwürfen suchten. Hier gab es Künstler und Dissidenten, Tramper, Punks und Grufties, engagierte Kirchenmenschen und an sich selbst oder der Partei gescheiterte Marxisten. Und es gab unendlich viel Sehnsucht – Sehnsucht nach Ferne, nach Freiheit, nach Transzendenz. Es gab Suche nach Entgrenzung. Und es gab Rausch.
In der DDR gab es keine Drogen?
Wer das allen Ernstes behauptet, sagt nur, dass er die entsprechende Realität nicht wahrgenommen hat. Was den Tatsachen entspricht, ist dies: in der DDR gab es keinen ökonomisch effektiven Drogenschwarzmarkt. Dazu war die selbsternannte Volksrepublik wirtschaftlich einfach zu unattraktiv. Aber es gab Alkohol in rauen Mengen. Es gab Psychopharmaka und deren gezielten Gebrauch als Rauschmittel. Es gab das berüchtigte Faustan, das auf verschlungene Weise den Weg aus Kliniken hinein in die Szene fand. Es gab Nuth, ein zum Schnüffeln missbrauchter Fleckenentferner. Es gab Leute, die mit Muskat und Nachtschattendrogen experimentiert haben. Es gab medizinisches Personal, das sich am Morphium aus der Apotheke vergriffen hat. Und ja, es gab Leute, die über Kontakte nach Westberlin oder nach Ungarn und Polen an Gras und LSD herangekommen sind.
Welche Drogen in welcher Art und Weise gebraucht werden, das sagt sehr viel über eine Gesellschaft aus. Drogen sind weit mehr Spiegel, als Verursacher gesellschaftlicher Prozesse. Die jeweils bestehende Drogenkultur wird von unterschiedlichen sozialen, religiösen bzw. philosophischen, ökonomischen, juristischen und politischen Faktoren beeinflusst. Sie beschreibt individuelle, wie auch kollektive Erfahrungen. Dabei werden auch verdrängte und verheimlichte Realitäten sichtbar. Drogengebrauch, sowohl im offiziellen als auch im subkulturellen Kontext, bringt den verborgenen, psychischen Zustand einer Gesellschaft ans Licht. Sehnsüchte und Ängste, Trauer und Träume, Bewältigungsstrategien und Herrschaftsstrukturen, Anpassung und Widerstand finden in den Drogenkulturen ihren Widerschein. Die Dimension von Philosophie und Weltdeutung, Grenzüberschreitung und Transzendenz wird durch Rausch- und Drogenerfahrung berührt. Auch in der DDR war Drogenkultur ein Spiegel des gesellschaftlichen Zustandes.
Über den Autor
Zum Weiterlesen
- Weitere Berichte über Widerstand und Jugendkultur in der DDR von Michael Kleim finden sich bei Facebook.
- Weiterer Gastbeitrag im MBMC Blog: Todesstrafe im Namen der „Drogenbekämpfung“ – Eine Dokumentation von Hinrichtungen
Der Bericht wurde zuerst am 1.11.23 von Michael Kleim auf Facebook veröffentlicht. Vielen Dank für die Erlaubnis zur Veröffentlichung im Blog.
Graphik: Lukas Uhlig, Weimar
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