Die simplen Beschämungen „Da klebt Blut dran“ und „Die Leute sollten aufhören, Kokain zu konsumieren“ bringen uns nicht weiter.
Einen Kokain-Fang nach den anderem in Polizeimeldungen und den Medien als „DEN Schlag gegen die Organisierte Kriminalität“ zu feiern, bringt uns ebenfalls nicht weiter.
Wir haben die Seite am 7.9.2024 mit weiteren Medien-Tipps sowie Fallbeispielen zur Lebenswirklichkeit in São Paulo und Berlin erweitert.
Für wirksame Lösungen zur Reduzierung der Gewalt im illegalen Drogenhandel ist es unumgänglich, über die Rolle der Drogenpolitik zu sprechen.
Wir müssen über das Zusammenspiel der deutschen, europäischen und internationalen Strafverfolgung mit der internationalen organisierten Kriminalitität sprechen. Denn der folgenschwere Teufelskreis aus Aufrüsten und Intensivieren der Gewalt lässt sich in der Drogenpolitik durchaus verlassen.
Wir hoffen, mit dieser Informationsseite – im Sinne der Menschen, die mit der Gewalt und dem Leid leben – zu einer informierteren zielführenderen Debatte beitragen zu können.
Rückmeldungen, Hinweise oder Fragen nehmen wir gerne entgegen: team [at] mybrainmychoice . de
Auf dieser Seite:
- Wir müssen die Empfehlungen von Fachkommissionen diskutieren.
- Die Verbotspolitik ist ein systematisch globales und konkret lokales Menschenrechts-Problem.
- Der Fall Mexiko
- Extreme Verelendung und Polizeigewalt in São Paulo, Brasilien
- Obdachlosigkeit, Crack-Konsum, „Drogenbekämpfung“ und Drogentod in Berlin
- Kolumbien als Vorreiter für Veränderung
- Das Stigma und die Strafandrohung begünstigen den gescheiterten Status quo.
Wir müssen die Empfehlungen von Fachkommissionen diskutieren.
Vor allem müssen wir damit anfangen, die Empfehlungen von drogenpolitischen Expert*innen in Debatten und Berichterstattung über den Kokainhandel nicht weiter außen vor zu lassen.Gute Wege für einen wirksamen Umgang mit dem Kokainhandel und dem in Europa steigenden Kokainkonsum wurden längst erarbeitet. Zum Beispiel stellt die profilierte Global Commission on Drug Policy im ihrem Bericht, der auch auf Deutsch verfügbar ist, fest:
„Die Staaten müssen die negativen Auswirkungen repressiver Ansätze anerkennen und akzeptieren, dass eine Prohibition kriminelle Organisationen begünstigt und stärkt. Diese Einsichten müssen öffentlich gemacht werden und in die nationalen Debatten einfließen, um eine mutige Reform der Drogenpolitik voranzutreiben.
Das Fokussieren der repressiven Drogenpolitik auf Kleinkriminelle und Menschen, die Drogen konsumieren, hat die negativen Folgen für die Volksgesundheit verschärft, Menschenrechtsverletzungen verursacht, die Strafrechtssysteme überfordert und wertvolle Ressourcen gebunden, die dadurch in der Verfolgung der gefährlichsten Gruppierungen der organisierten Kriminalität fehlen. Mancherorts führt dieser Ansatz zu einer Militarisierung der Gesellschaft und untergräbt die Sicherheit, die staatliche Rechenschaftspflicht, die Aufsicht über die Strafverfolgung, die Regierungsführung und die Legimitation des Staates. Diese weitreichenden Auswirkungen der Prohibition schwächen das Sozialgefüge und korruptionsanfällige staatliche Institutionen und führen zu überfüllten Gefängnissen. Sie bieten dem organisierten Verbrechen einen fruchtbaren Boden für seine Aktivitäten und für das Anwerben von Menschen ohne wirtschaftliche Perspektive und korrupten Beamten.“
Die Verbotspolitik ist ein systematisch globales und konkret lokales Menschenrechts-Problem.
2023 hat der höchstrangige Menschenrechts-Beauftragte der UN, UN-Hochkommissar Volker Türk, in seinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat das Problem der „Drogenbekämpfung“ deutlich benannt und betont, dass kleine Reförmchen der jetzigen Strategien nicht ausreichen, um die verheerenden Folgen für die Weltbevölkerung, inbesondere die arme, zu beheben.
Den internationalen Kommentar von 133 Organisationen der Zivilgesellschaft haben wir ins Deutsche übersetzt und im Blog veröffentlicht (hier lesen). Darin heißt es zusammenfassend:
Der neue Bericht beinhaltet überdies eine systematische Bestandsaufnahme der stark angewachsenen Anzahl drogenpolitischer Handlungsempfehlungen von UN-Menschenrechtsexpert*innen. Somit liefert der Bericht eine Vorlage für die Entwicklung von einem Vorgehen, das auf der Achtung der öffentlichen Gesundheit und den Menschenrechten beruht. Einige der wichtigsten Erkenntnisse sind:
- Die Anerkennung von Schadensminimierung (harm reduction) als ein zentrales Element des Rechts auf Gesundheit
- Die Benennung der Militarisierung der Drogenkontrolle als Motor staatlicher Gewalt
- Der Aufruf zur Abschaffung der Todesstrafe für Drogendelikte
- Die Anerkennung der Rolle unverhältnismäßiger Drogengesetze an der weltweiten Masseninhaftierung
- Die Dokumentation der gezielten Verwendung von Drogenpolitik gegen marginalisierte Gruppen wie Indigene Völker, Menschen mit afrikanischer Abstammung und Frauen
- Die Anerkennung der unverhältnismäßigen negativen Auswirkungen der Prohibition und Kriminalisierung auf Menschen, die von humanitären Krisen betroffen sind.
Der Bericht des UN-Hockommissars für Menschenrechte beruht unter anderem auf den Berichten der unabhängigen UN-Sonderberichterstatter*innen, die sich über die letzten Jahren zu den Auswirkungen der Verbotspolitik gehäuft haben. Die gemeinsame Pressemitteilung zum Weltdrogentag am 26. Juni 2023 haben wir ebenfalls übersetzt und im Blog veröffentlicht: UN-Expert*innen fordern die Beendigung des weltweiten „Kriegs gegen Drogen“
Der Fall Mexiko
In ihrem Buch „Es reicht!“ haben Carmen Boullosa und Mike Wallace den Fall Mexiko historisch herausgearbeitet und die Entwicklung der prohibitiven Drogenpolitik bis zur Eskalation im Drogenkrieg ab 2006 nachgezeichnet. Die Lage in Mexiko, die jedes Jahr zehntausende Menschenleben kostet, als „Kartell-Krieg“ zu beschreiben, wie es so oft in der Bericherstattung skizziert wird, ist extrem verkürzt und irreführend.
Die Darstellung als heroisches Abenteuer zwischen einzelnen mutigen Anti-Drogen-Polizisten gegen skrupellose Kartell-Führer, ist Unterhaltungsindustrie, aber ebenfalls nicht geeignet, um sich Wissen über die realen Zusammenhänge anzueignen und wirksame Lösungsstrategien zu diskutieren. Die faszinierte Beweihräucherung der mächtigen Anführer und die Genugtuung bei ihrer Festnahme, ob in Spielfilmen oder in der Realität, lässt die reale Funktion und Hintergründe der verheerenden Realität außer acht.
Im Sinne der Menschen und im Sinne der Suche und Umsetzung von Lösungen, die die Gewalt und Korruption reduzieren, ist es unbedingt nötig, diese Klischees beiseite zu schieben und richtig hinzusehen.
Der Drogenkrieg in Mexiko ist nicht ohne die politischen Entscheidungen und den geo- und wirtschaftspolitischen Kontext des Landes zu verstehen. Der Drogenkrieg in Mexiko geht auch nicht allein aufs Haupt der USA, wenngleich zum Beispiel wohl die US-Waffenlobby als einer der skrupellosen Akteure und Verantwortlichen der tödlichen Fortsetzung des Drogenkriegs zu nennen ist; das Problem des mexikanischen Drogenkriegs ist genauso auch hausgemacht. Schlichtweg die USA als Hauptkonsumland und Drogenkriegs-Exporteur zu beschuldigen, lenkt von der eigenen politischen Verantwortung der Regierungen und den konkreten Handlungsmöglichkeiten ab.
Carmen Boullosa und Mike Wallace verdeutlichen in ihrem Buch „¡Es reicht!: Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen“ (EN: „A Narco History: How the United States and Mexico Jointly Created the „Mexican Drug War“, ES: „Narcohistoria. Como México y Estados Unidos crearon juntos la guerra contra las drogas“) die Entstehungsgeschichte der mexikanischen Drogenpolitik von Regierungswechsel zu Regierungswechsel über die letzten 100 Jahre und die portraitieren die jeweiligen Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Macht der Kartelle.
- Das Buch wurde ins Deutsche übersetzt (Verlag Antje Kunstmann, 2015) und zudem bei der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben, ist aber inzwischen nur noch gebraucht erhältlich. Es ist inhaltlich nach wie vor aktuell und relevant.
- Im DLF gibt es eine kleine Buchbesprechung: https://www.deutschlandfunkkultur.de/carmen-boullosa-mike-wallace-es-reicht-plaedoyer-fuer-eine-100.html
Extreme Verelendung und Polizeigewalt in São Paulo, Brasilien
Die Arte Reportage „Brasilien: Der Clown von Cracolândia“ gibt einen menschlichen Einblick in ein extremes Elendsviertel, indem sich viele wohnungslosen Crack-abhängigen Menschen von São Paulo aufhalten. (Die deutsche Übersetzung des O‑Tons ist teilweise leider missglückt. Der Interviewte bezeichnet die Menschen nicht mit abwertenden Begriffen. Wir haben die Redaktion darauf hingewiesen.)
Die Autorin Patrícia Melo hat mit ihrem Roman „Die Stadt der Anderen“ (auf Deutsch: Unionsverlag, 2024) ein brilliantes Portrait der strukturellen Ausgrenzung, Korruption, Polizeigewalt, Verzweiflung, und nicht weniger, von Hoffnung und Menschlichkeit geschaffen. Ohne Elendsvoyerismus und ohne Schönreden lädt der Roman nicht zum distanzierten Mitleid ein, sondern erzählt die Geschichten mehrerer fiktiver Figuren und so eine momentane Wirklichkeit, die nicht nur in São Paulo, sondern auch in Deutschlands Großstädten gelebt wird.
Obdachlosigkeit, Crack-Konsum, „Drogenbekämpfung“ und Drogentod in Berlin
In dieser 23-minütigen Audio-Datei (die wir im Rahmen des Gedenktags 2024 zusammen mit dem Notdienst Berlin und Kotti Kompass/Fixpunkt erstellt haben) kommentieren Menschen, die auf den Berliner Straßen leben und konsumieren die aktuelle Lage und Entwicklungen:
Kolumbien als Vorreiter für Veränderung
2022 appellierte der kolumbianischen Präsident Gustavo Petro an die internationalen Institutionen und Staatengemeinschaft:
During his first speech at the General Assembly as the President of Colombia, Gustavo Petro said that the world’s addiction to money, oil and carbon is destroying the rainforest and its people under the excuse of a “hypocritical” war against drugs.
[…]
“What is more poisonous for humanity, cocaine, coal or oil? The opinion of power has ordered that cocaine is poison and must be persecuted, while it only causes minimal deaths from overdoses…but instead, coal and oil must be protected, even when it can extinguish all humanity,” he said, adding that such reasoning was “unjust and irrational”.
“The culprit of drug addiction is not the rainforest; it is the irrationality of the world’s power. Give a blow of reason to this power. Turn on the lights of the century again”, he urged.
The President said that the war against drugs has lasted over 40 years, and it has not been won.
“By hiding the truth, they will only see the rainforest and democracies die. The war on drugs has failed. The fight against the climate crisis has failed,” he noted.
Mr. Petro then demanded, speaking in the name of all of Latin-America, the end of the “irrational war against drugs”.
“Reducing drug use does not require wars, it needs us all to build a better society: a more supportive, more affectionate society, where the meaning of life saves us from addictions… Do you want fewer drugs? Think of earning less and giving more love. Think of a rational exercise of power”, he told world leaders.
Die kolumbianische Expertin Ana Maria Rueda schätzt die Vorreiterrolle Kolumbiens in einem Interview mit dem ipg-journal von März 2023 wie folgt ein:
„Derzeit scheint Kolumbien genau in diese Richtung voranzugehen: Als größter Kokainexporteur ist es gelungen, mehr als 60 Länder dazu zu bringen, einer Erklärung zuzustimmen, die die großen Einschränkungen der aktuellen Politiken anerkennt und die Notwendigkeit aufzeigt, die Würde und die Rechte der Menschen in den Mittelpunkt der Drogenpolitik zu stellen. Noch ist es jedoch schwer abzusehen, wie sich die Situation entwickeln wird. Es müssen dabei auch die verschiedenen geopolitischen Faktoren berücksichtigt werden, ebenso wie die enormen Kosten, die mit der Förderung dieser Änderungen im internationalen Drogenkontrollsystem für Länder und Regierungen verbunden wären, sowohl auf multilateraler als auch auf nationaler Ebene. Es bleibt daher spannend, wie sich das alles noch entwickeln wird.“ (Ganzes Interview hier lesen.)
Ein wichtiger Akteuer der kolumianischen Zivilgesellschaft ist Julián Quintero. 2022 hat er im Interview mit uns Einblick in sein Engagement und die politischen Strategien seiner Organisation gegeben. (Hier lesen.)
Das Stigma und die Strafandrohung begünstigen den gescheiterten Status quo.
Trotz der deutlichen Erkenntnisse bringen sich aber recht wenige Menschen in die öffentliche Debatten ein. Es ist wichtig anzuerkennen, dass das Kokainverbot Auswirkungen auf die Debatte über wirksame Auswege aus dem gewaltvollen Drogenhandel hat. Wer über Kokain spricht, wird als schamlose*r Konsument*in – samt allen Vorurteilen über die Wirkungsweise von Kokain – bezichtigt, den blutigen Drogenkrieg verantwortungslos hinzunehmen und mitzuverursachen. Das Stigma, Tabu und die ganz konkrete Androhung der Strafverfolgung führen dazu, dass selbst evidenz-basierte Meinungen gegen den Status quo der Kriminalisierung und das Wissen von Menschen, die am meisten mit der Sache zu tun haben, in der öffentlichen Debatte kaum präsent sind.
Es ist nicht leicht, die deutsche Kokain-Debatte vorbei an den Polizeimeldungen über Drogenfunde, vorbei an den Sorgen über das Anwachsen organisierter Kriminalität auf europäischem Boden, und weg von der zwecklosen Beschämung Einzelner zu navigieren und sie in die politische-gesellschaftliche Dimension zu heben, dorthin, wo wirksame Lösungsstrategien warten, umgesetzt zu werden.
Wir hoffen, mit dieser Informationsseite – im Sinne der Menschen, die mit der Gewalt und dem Leid leben – zu einer informierteren und zielführenderen Debatte beitragen zu können.
Rückmeldungen, Hinweise oder Fragen nehmen wir gerne entgegen: team [at] mybrainmychoice . de