GENF (23. Juni 2023) – Die internationale Gemeinschaft muss Bestrafung durch Unterstützung ersetzen und eine Politik fördern, die die Rechte aller respektiert, schützt und erfüllt, so UN-Expert*innen heute. Im Vorfeld des Internationalen Tages gegen Drogenmissbrauch und unerlaubten Suchtstoffverkehr 2023 fordern sie einen tiefgreifenden Wandel im internationalen Umgang mit Drogen, der sich an der Gesundheit und anderen Menschenrechten ausrichtet. Sie gaben folgende Erklärung ab:
„Der ‚Krieg gegen Drogen‘ kann in hohem Maße als ein Krieg gegen Menschen verstanden werden. Er trifft Menschen, die in Armut leben, am stärksten und wirkt oft in Verbindung mit der Diskriminierung marginalisierter Gruppen, Minderheiten und Indigener Völker. Durch unsere Berichterstattung und praktische Arbeit haben wir festgestellt, dass diese diskriminierenden Auswirkungen ein gemeinsames Element der verschiedensten drogenpolitischen Regelungen und Maßnahmen sind und eine Vielzahl von Menschenrechten betreffen. Dazu gehören das Recht auf persönliche Freiheit, das Recht auf Freiheit von Folter, Misshandlung und Zwangsarbeit sowie das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren; das Recht auf Gesundheit, einschließlich des Zugangs zu unentbehrlichen Arzneimitteln, Palliativmedizin, umfassender Drogenprävention und ‑aufklärung, Drogentherapie und Harm Reduction (Schadensminimierung)[2]; das Recht auf angemessenen Wohnraum; Freiheit von Diskriminierung und das Recht auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz; das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt; kulturelle Rechte und die Meinungs‑, Religions‑, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Die Drogenbekämpfung hat weltweit zu massiven Verletzungen der Menschenwürde und der Freiheit von Personen afrikanischer Abstammung geführt. Berichte belegen, dass Menschen afrikanischer Abstammung im Zusammenhang mit Drogendelikten unverhältnismäßigen und ungerechtfertigten Eingriffen, Festnahmen und Inhaftierungen durch die Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt sind. In zahlreichen Ländern funktioniert der „Krieg gegen die Drogen“ mehr als ein System rassistischer Unterdrückung denn als Mittel zur Eindämmung von Drogenmärkten. Polizeiliche Eingriffe, die auf Racial Profiling[3] beruhen, sind nach wie vor weit verbreitet, während der Zugang zu evidenzbasierter Behandlung und Harm Reduction-Maßnahmen für Menschen afrikanischer Abstammung weiterhin erschreckend begrenzt ist.
Weltweit sind Frauen, die Drogen gebrauchen, beim Zugang zu Harm Reduction-Programmen, Suchttherapie und medizinischer Grundversorgung erheblichen Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Obwohl jede dritte drogengebrauchende Person eine Frau ist, machen sie unter den Personen, die sich in Behandlung befinden, nur ein Fünftel aus. Darüber hinaus sind Frauen überproportional häufig von Kriminalisierung und Inhaftierung betroffen: 35 % der weltweit inhaftierten Frauen wurden im Zusammenhang mit Drogendelikten verurteilt, gegenüber 19 % unter den inhaftierten Männern. Die Ursachen für die Interaktion von Frauen mit dem Strafrechtssystem im Zusammenhang mit Drogen sind vielschichtig, hängen oft mit anderen Faktoren wie Armut und Zwangsverhältnissen zusammen und spiegeln vermutlich die strukturelle gesellschaftliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern (gender) wider. Hervorzuheben ist außerdem, dass die meisten Frauen, die für Drogendelikte inhaftiert werden, über eine geringe formale Bildung verfügen.
Nach internationalem Recht dürfen Staaten, welche die Todesstrafe noch immer nicht abgeschafft haben, diese nur für die „schwerwiegendsten Verbrechen“ (most serious crimes) verhängen. Gemeint sind damit Verbrechen äußersten Schweregrades, wie z.B. vorsätzliche Tötung. Drogendelikte erfüllen diese Voraussetzung offenkundig nicht. Dennoch können in über 30 Ländern Todesurteile für Drogendelikte verhängt werden und Menschenrechtsexpert*innen verweisen besorgt auf die nachweislich diskriminierende Auswirkung auf Angehörige von Minderheiten.
Ausnahmslos alle Menschen haben ein Recht auf lebensrettende Maßnahmen zur Harm Reduction, die für den Schutz des Rechts auf Gesundheit von drogengebrauchenden Personen unerlässlich sind. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat jedoch nur eine von acht Personen mit einer Drogenabhängigkeit Zugang zu einer geeigneten Behandlung. Die Abdeckung mit Harm Reduction-Angeboten ist nach wie vor sehr gering. Besonders kritisch ist die Situation für Frauen, LGBTIQ+ und andere marginalisierte Gruppen. Harm Reduction- und Behandlungsangebote sind oft nicht auf diese Personengruppen ausgerichtet oder gehen nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse ein. Zusätzlich sind Frauen und LGBTIQ+ noch stärker als Männer, die Drogen gebrauchen, von Stigmatisierung, einschließlich Selbststigmatisierung, und Diskriminierung betroffen.
Mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung hat auch der Drogengebrauch bei den über 65-Jährigen zugenommen. Die COVID-19-Pandemie hat sich negativ auf die Gesundheit und das Wohlbefinden älterer Menschen ausgewirkt. Studien zeigen, dass der Gebrauch von Schmerz- und Beruhigungsmitteln in dieser Altersgruppe gestiegen ist. Ältere Drogengebraucher*innen nutzen außerdem häufiger das Dark Web, soziale Medien und Internet-Foren, um sich illegale Substanzen zu beschaffen. Dies bedingt einen Anstieg der im Zusammenhang mit Drogen stehenden Todesfälle in den älteren Bevölkerungsgruppen.
Die Kriminalisierung von Substanzen, die traditionell von Indigenen Völkern verwendet werden, wie z.B. das Kokablatt, kann die Unterdrückung, Untergrabung und Marginalisierung traditioneller und Indigener Wissenssysteme und Medizin bedeuten. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit und ist eingebettet in diskriminierende Hierarchien und Vorstellungen. Die erzwungene Vernichtung von Nutzpflanzen, einschließlich des Versprühens hochgefährlicher Pestizide aus der Luft, kann der Umwelt, der Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser sowie der Gesundheit und dem Wohlergehen der Indigenen Gemeinschaften schweren Schaden zufügen. Indigene Völker, die von solchen und anderen Drogenbekämpfungsmaßnahmen betroffen sein könnten, müssen in angemessener Weise einbezogen werden und Garantien dafür erhalten, dass ihr Leben, ihre kulturellen Praktiken, ihr Land und ihre natürlichen Ressourcen nicht missachtet werden.
Strafgesetze und die strafende Anwendung ordnungsrechtlicher und anderer Sanktionen stigmatisieren ohnehin marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Die Kriminalisierung führt zu erheblichen Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitsversorgung (einschließlich HIV-Behandlung und Palliativbetreuung) und verantwortet weitere Menschenrechtsverletzungen. Wie bereits im Gemeinsamen Standpunkt der Vereinten Nationen zur Drogenkontrollpolitik [Common Position Supporting the Implementation of the International Drug Control Policy Through Effective Inter-agency Collaboration von 2018, siehe Anhang unten am Ende des Beitrags, Anm. d. Übers.] gefordert, sollten der Gebrauch und der Besitz von Drogen für den Eigenbedarf dringend entkriminalisiert werden. Drogengebrauch oder ‑abhängigkeit sind niemals eine hinreichende Rechtfertigung für das Festhalten einer Person. Auf Zwang basierende Entzugseinrichtungen müssen geschlossen und durch freiwillige, evidenzbasierte und menschenrechtsorientierte Gesundheits- und Sozialdienste, die in den lokalen Gemeinschaften verankert sind, ersetzt werden.
Im Sinne des diesjährigen Mottos „People first: stop stigma and discrimination, strengthen prevention”) („Die Menschen im Mittelpunkt: Stigmatisierung und Diskriminierung beenden, Prävention stärken“) haben die Vereinten Nationen und die internationale Staatengemeinschaft eine historische Verantwortung, die verheerenden Schäden zu beheben, die der jahrzehntelange weltweite „Krieg gegen Drogen“ in marginalisierten und diskriminierten Gemeinschaften hinterlassen hat.
Wie bereits im Jahr 2022 fordern wir die Mitgliedsstaaten und alle UN-Organisationen auf, ihre Drogenpolitik auf die internationalen Menschenrechte und die damit verbundenen Normen zu gründen. Staaten und internationale Organisationen, die finanzielle oder technische Unterstützung für drogenpolitische Maßnahmen bereitstellen, sollten sicherstellen, dass diese Maßnahmen die Bedürfnisse aller Geschlechter (gender-responsive) berücksichtigen und aktiv zur Wahrung und zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beitragen.
Wir fordern die Mitgliedsstaaten und die internationalen Institutionen nachdrücklich dazu auf, ihre derzeitigen drogenpolitischen Regelungen und Maßnahmen durch solche zu ersetzen, die auf den Grundsätzen der Anwendung eines umfassenden, wiedereingliedernden Restorative Justice[4]–Ansatzes beruhen. Ebenso wichtig sind wirksame, gemeinschaftsorientierte, inklusive und präventive Maßnahmen.
Heute mehr denn je muss die internationale Gemeinschaft Bestrafung durch Unterstützung ersetzen und Regelungen fördern, welche die Rechte aller respektieren, schützen und verwirklichen.“
Die Expert*innen: Priya Gopalan (Vorsitz), Matthew Gillett (stellvertretender Vorsitz Kommunikation), Ganna Yudkivska (stellvertretender Vorsitz Follow-up), Miriam Estrada-Castillo und Mumba Malila, Arbeitsgruppe Willkürliche Verhaftung; Alexandra Xanthaki, Sonderberichterstatterin im Bereich kultureller Rechte; Dorothy Estrada Tanck (Vorsitzende), Ivana Radačić (stellvertretende Vorsitzende), Elizabeth Broderick, Meskerem Geset Techane und Melissa Upreti, Arbeitsgruppe Diskriminierung von Frauen und Mädchen; Tomoya Obokata, Sonderberichterstatter für gegenwärtige Formen der Sklaverei, einschließlich ihrer Ursachen und Folgen; Victor Madrigal-Borloz, Unabhängiger Experte für den Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität; Gerard Quinn, Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Tlaleng Mofokeng, Sonderberichterstatterin für das Grundrecht aller auf das Höchstmaß jeweils erreichbarer körperlicher und mentaler Gesundheit; Farida Shaheed, Sonderberichterstatterin für das Recht auf Bildung; Reem Alsalem, Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Mädchen, sowie ihre Ursachen und Folgen; Ms. Siobhán Mullally, Sonderberichterstatterin für Menschenhandel; Ashwini K.P., Sonderberichterstatter für gegenwärtige Formen des Rassismus; David R. Boyd, Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt; José Francisco Calí Tzay, Sonderberichterstatter für die Rechte Indigener Völker; Claudia Mahler, Unabhängige Expertin für die Gewährleistung sämtlicher Menschenrechte für ältere Menschen; Morris Tidball-Binz, Sonderberichterstatter für außergerichtliche, standrechtliche und willkürliche Hinrichtungen; Marcos A. Orellana, Sonderberichterstatter für die Auswirkungen des umweltgerechten Umgangs und Entsorgung gefährlicher Stoffe und Abfälle auf die Menschenrechte.
[*] Sonderberichterstatter*innen (Special Rapporteurs) gehören zu den so genannten Sonderverfahren (Special Procedures) des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen (United Nations Human Rights Council, UNHRC). Sonderverfahren stehen für das größte Gremium unabhängiger Expert*innen im UN-Menschenrechtssystem und bezeichnen die unabhängigen Untersuchungs- und Überwachungsmechanismen des Rates, die sich entweder mit länderspezifischen Situationen oder mit Themenschwerpunkten in allen Teilen der Welt befassen. Die Expert*innen der Sonderverfahren arbeiten ehrenamtlich. Sie sind keine UN-Mitarbeiter*innen und erhalten kein Gehalt für ihre Arbeit. Sie sind unabhängig von jeder Regierung oder Organisation und arbeiten in eigener Sache.
Anmerkungen zur Übersetzung:
[1] Der Weltdrogentag wurde ursprünglich von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen und firmiert offiziell als „International Day Against Drug Abuse and Illicit Trafficking“ bzw. „Internationaler Tag gegen Drogenmissbrauch und unerlaubten Suchtstoffverkehr“. Seit einigen Jahren wird der Jahrestag weltweit von Aktivist*innen durch Aktionen und Demonstrationen unter dem gemeinsamen Motto #SupportDontPunish geprägt, woran auch wir uns seit 2018 beteiligen.
[2] Erklärungen finden sich in unserer Kurzdefinition von „Harm Reduction“ und in unserem Hintergrund-Artikel „Was Harm Reduction ist und warum wir mehr davon brauchen“ von Melissa Scharwey.
[3] racial profiling, auf Deutsch etwa: rassistische Profilbildung. Bezeichnet ein diskriminierendes Vorgehen von Institutionen, wie zum Beispiel der Polizei oder anderen Vollzugsorganen. Dabei werden Personen auf Grund äußerer Eigenschaften, wie bspw. Hautfarbe oder (vermutete) Religionszugehörigkeit, grundsätzlich als Verdächtige eingestuft, ohne dass ihr Verhalten tatsächlich dazu Anlass gibt. Siehe auch: Bundeszentrale Politische Bildung „„Racial Profiling“, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten“ von Dr. Vanessa Eileen Thompson.
[4] restorative justice, auf Deutsch etwa: wiederherstellende Gerechtigkeit. Bezeichnet ein Konzept von Gerechtigkeit, das die Straf- und Vergeltungslogik traditioneller Auffassungen von Gerechtigkeit zu überwinden sucht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Wiedergutmachung zugefügten Unrechts. Siehe auch: Social.net „Restorative Justice“ von Prof. Dr. Thomas Trenczek.
Die Gemeinsame Position der Vereinten Nationen für die Entkriminalisierung von Personen, die illegale Drogen nehmen:
2018 hat das UN System Chief Executives Board for Coordination die Gemeinsame Position „United Nations system common position supporting the implementation of the international drug control policy through effective inter-agency collaboration“ beschlossen. Diese Institution ist älteste und höchstrangige Gremium des Systems der Vereinten Nationen zur gegenseitigen Verständigung und Abstimmung. Die Gemeinsamen Positionen des UN System Chief Executive Board for Coordination sind für andere UN-Institutionen wie die Suchtstoffkommission (CND, Commission on Narcotic Drugs) nicht bindend, aber es gibt für das gesamten System der UN die gemeinsame, stategische Orientierung vor.
In ihrer Gemeinsamen Position von 2018 zur Umsetzung der Drogenkontrollpolitik verpflichteten sie sich zur Verstärkung gemeinsamer Anstrengungen und gegenseitigen Unterstützung in Bezug auf den Umfang mit drogengebrauchenden Personen unter anderem zur:
[…] UN-Expert*innen fordern die Beendigung des weltweiten „Kriegs gegen Drogen“ […]
[…] UN-Expert*innen fordern die Beendigung des weltweiten „Kriegs gegen Drogen“ […]
[…] UN-Expert*innen fordern die Beendigung des weltweiten „Krieges gegen Drogen“ […]
[…] bricht mit dem menschenrechtlichen Grundsatz auf Freiweilligkeit von (Nicht-)Behandlung (siehe: UN experts call for end to global ‘war on drugs’ / „UN-Expert*innen fordern die Beendigung …). Dies ist nicht „nur“ ein idelles Prinzip, sondern die Kriminalisierung ist ein praktisches […]