Sehr geehrter Herr Dr. Hendrik Streeck, Bundesdrogenbeauftragter der Bundesregierung, sehr geehrte Frau Dr. Ina Czyborra, Berliner Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege, wie schön, dass Sie heute den Weg hierher zum Gedenktag gefunden haben.
Liebe Besucher und Besucherinnen dieses Gedenktags, liebe Drogengebrauchende, Substituierte, Mitstreiter und Mitstreiterinnen von JES und BERLUN, sehr geehrte professionelle Mitarbeitende in der Berliner Drogenhilfe, vor allem: liebe Überlebende, Betroffene und alle, die etwas ändern wollen!
Herzlich Willkommen!
Mein Name ist Marc Seidel, ich bin mittlerweile seit mehr als 25 Jahren substituiert, engagiere mich seit 20 Jahren als Mitglied im bundesweiten Selbsthilfenetzwerk JES und seit 7–8 Jahren bei JES-Berlin. Ich wohne zurzeit in einem Vista-Wohnprojekt, habe während der Zeit dort eine Ausbildung zum Sozialassistenten absolviert und studiere derzeit in Teilzeit “Soziale Arbeit” an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf.
Mir wurde erneut die Ehre zuteil, diese Rede hier in Berlin anlässlich des “Gedenktags für verstorbene Drogengebrauchende” zum wiederholten Mal halten zu dürfen, allerdings ist es gar nicht so einfach, in Fragen der Drogenproblematik jedes Jahr das Rad neu erfinden zu wollen.
Vieles Wichtige, schon Gesagte hätte hier heute auch noch mit auf den Tisch gehört, fällt aber der beschränkten Redezeit zum Opfer, aber keine Angst, es bleibt noch genug zu sagen!
Wir stehen heute hier auf dem Oranienplatz in Kreuzberg – mitten im Herzen Berlins – und fühlen Trauer, Wut und Entschlossenheit.
Der 21. Juli ist für uns kein bloßes Ritual. Er ist unser lautstarker Protest gegen Gleichgültigkeit, gegen eine Drogenpolitik, die weiterhin Menschen tötet, ausgrenzt und entwürdigt.
Wir versammeln uns heute zum 28. Mal, um der Menschen zu gedenken, die aufgrund der Bedingungen ihres illegalisierten Drogenkonsums vorzeitig aus dem Leben gerissen wurden.
Es ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag der Hoffnung – ein Tag, an dem wir nicht nur erinnern, sondern auch entschlossen handeln müssen.
Das Motto des diesjährigen Gedenktags lautet:
„Überdosierung und Drogentod können alle Menschen (be-)treffen„1
Diese Worte treffen den Kern unserer gesellschaftlichen Realität. Drogentod ist kein Problem einer vermeintlichen Randgruppe – er betrifft uns alle: die Konsumierenden selbst, ihre Familien, Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen im Hilfesystem2).
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Und die aktuellen Zahlen, die Sie, Herr Dr. Streeck, Anfang Juli vorgestellt haben, sind erschütternd: 2.137 Menschen starben 2024 an den direkten Folgen ihres Drogenkonsums3). Das sind zwar 90 Menschen weniger als im Rekordjahr 2023, aber diese minimale Verbesserung darf uns nicht täuschen4). Das ist allerhöchstens ein Moment der Stagnation auf einem dramatisch hohen Niveau.
Besonders alarmierend ist der Anstieg der Todesfälle bei jungen Menschen unter 30 Jahren um 14 Prozent5). Wir verlieren Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten.
Und natürlich 294 Drogentote allein im letzten Jahr in Berlin – ein ganz trauriger Rekord)!6 294 – so viel wie noch nie bisher, nur hier in Berlin! Hinter jeder Zahl steht ein Name, eine Geschichte, eine zerstörte Familie.
Wie gesagt, ein ganz trauriger Rekord!
Und dennoch erleben wir, wie ausgerechnet in Berlin, das sich so gerne als fortschrittliche Stadt der Avangarde und der Vielfalt sieht, alte Fehler wiederholt und neue Gefahren ignoriert werden.
Wir sagen es deutlich:
Jede einzelne dieser Todeszahlen ist ein Ergebnis von politischem Unwillen, von Systemversagen und von Ignoranz gegenüber wissenschaftlicher Evidenz.
Es ist kein Naturgesetz, dass Menschen an Drogen sterben müssen!
Es sind politische und gesellschaftliche Entscheidungen, die verhindern, was heute technisch und wissenschaftlich möglich wäre: Leben zu retten, Leid zu lindern, Selbstbestimmung zu ermöglichen7).
Keine Rückschritte – jetzt erst recht!

Wir richten unsere Worte und Forderungen heute insbesondere an Sie, Herr Dr. Streeck, Bundesdrogenbeauftragter, und an Sie, Frau Dr. Czyborra, als Gesundheitsministerin dieser Stadt:
Es darf keinen Rückschritt in der Drogenpolitik geben. Nicht bei Cannabis. Nicht bei Substitution. Nicht bei Harm Reduction. Nicht bei Entstigmatisierung!
Wer jetzt auf Kuschelkurs mit Populismus geht, spielt mit Menschenleben!
Die Situation in Berlin: Brennpunkt und Hoffnung zugleich. Berlin – diese Stadt lebt von Vielfalt und Mut zum Anderssein. Hier wurde Drug Checking eingeführt, es gibt Drogenkonsumräume, mobile Hilfen, Vernetzung. Das ist unser aller gemeinsamer Verdienst8)!
Doch unsere Arbeit wird überrollt – von neuen Substanzen, von Crack auf den Straßen, von synthetischen Opioiden wie Fentanyl oder Nitazene, die plötzlich Leben kosten können9). Wir sehen, dass mit jedem neuen Jahr viele weitere Menschen sterben.
Die Konsumrealität hat sich verändert:
Immer mehr Menschen konsumieren Crack, besonders im öffentlichen Raum. Es gibt zu wenig sichere Konsumräume und medizinisch betreute Angebote. Vielen ist der Zugang zu Substitution versperrt, weil zu wenig Ärzt*innen mitmachen. Drug Checking bleibt auf Modellregionen beschränkt, wo Flächenbedarf ist. Die Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung werden nicht schwächer – sie nehmen mit der Verknappung von Hilfen zu.
Ausgerechnet in Berlin erleben wir: Fortschritt trifft auf Abwehr. “Nimby!”, “Not in my backjard”, “Nicht in meiner Nachbarschaft“ ist auch hier längst zur Ausrede für fehlende Sozialräume, zu wenig Beratung und politisch blockiertes Handeln geworden10).
Unsere politischen Forderungen – zum x‑ten Mal, jetzt noch entschlossener! Wir von JES, gemeinsam mit Initiativen wie My Brain My Choice, unterstützt von zahlreichen Fachorganisationen, fordern endlich die konsequente Umsetzung von Strategien, die Leben retten, statt dem vermeintlichen Zeitgeist hinterherzuhinken11).
1. Entkriminalisierung sofort!
Wir verlangen die vollständige Entkriminalisierung des Drogenkonsums und des Besitzes geringer Mengen für den Eigenbedarf – für alle Substanzen. Willkürliche Grenzwerte, polizeiliche Repression und Justizüberlastung verhindern effektiven Gesundheitsschutz12).
2. Drug Checking flächendeckend und niederschwellig, auch in Konsumräumen
Heroin wird immer häufiger mit Fentanyl oder Nitazenen versetzt, was die Todesgefahr enorm steigert. Wer überleben will, braucht niedrigschwelligen Zugang zu Analyse und Beratung – überall, nicht nur bei Projektaufrufen.
3. Ausbau und Verteidigung aller Harm-Reduction-Angebote
Konsumräume, Peer-Projekte, Spritzentausch, Naloxonvergabe: Das sind keine Luxusangebote und keine experimentellen Nischen, sondern Grundpfeiler dringend notwendiger Lebensrettung13). Die Politik muss endlich für dauerhafte, ausreichende Finanzierung sorgen – und nicht immer wieder an der Daseinsberechtigung dieser Angebote zweifeln!
4. Mehr Ärzt*innen für die Substitution: Bürokratie abbauen, Kompetenz stärken
Trotz steigender Nachfrage sinkt die Zahl der substituierenden Ärzt*innen weiter – auch in Berlin. Zu viele Hürden, zu viele Ängste, zu wenig Wertschätzung! Wir fordern:
Suchtmedizinische Fortbildungen niederschwellig und kostenfrei anbieten, bürokratische Hürden und unsinnige Begrenzungen der Patientenzahl abbauen, Substitution mit neuen Substanzen wie Diamorphin stärken und unkomplizierter zugänglich machen14), Honorarmodelle und Unterstützungssysteme, die es Ärzt*innen ermöglichen, ohne Angst vor Sanktionen oder Überprüfung zu behandeln.
5. Substitution entstigmatisieren und als krankenkassengarantierte Regelversorgung ausbauen
Substitution ist Überlebenshilfe, nicht Strafmilderung!
Sie verhindert Überdosierungen, reduziert Kriminalität und soziale Ausgrenzung15).
Wir fordern die Gleichstellung der Substitution mit allen anderen medizinischen Leistungen und eine aktive Werbung seitens der Behörden, um neue Ärzt*innen zu gewinnen und Praxen zu sichern.
6. Kampflinie: Kein Rückschritt bei Cannabis!
Wer jetzt wieder auf Verbote setzt oder Modellprojekte einbremst, ignoriert internationale Erfahrungen und wissenschaftliche Fakten: Eine repressive Cannabispolitik schafft illegale Märkte, verunreinigte Produkte, Kriminalisierte – und ist gesundheitspolitisch fahrlässig16).
Wir verlangen den flächendeckenden Zugang zu regulierten Cannabisprodukten, effektiven Jugendschutz, sachliche Aufklärung und Schluss mit unverhältnismäßigen Polizeimaßnahmen.
Wissenschaftliche Grundlagen und die Stimme der Praxis:
Wir verlassen uns nicht auf Bauchgefühle oder parteipolitische Reflexe, sondern auf jahrzehntelange Forschung und Praxis. Strafrecht tötet. Akzeptanz und Schadensminimierung retten Leben17). Politischer Reformstau führt zu unnötigen Todesfällen.
Nur evidenzbasierte, akzeptierende und entstigmatisierende Drogenpolitik und ‑medizin führen zu nachhaltigen Erfolgen. Wir brauchen ressortübergreifende Zusammenarbeit, auch über die Gesundheitsministerien hinaus, insbesondere auch, was zunehmende Wohnungs- und Obdachlosigkeit drogenkonsumierender Menschen anbetrifft.
Am Ende möchte ich noch kurz auf positive alternative nationale und internationale Modelle hinweisen – wie z.B u. a. Portugal, Schweiz, Kanada – Von denen wir hier lernen können und wo Menschlichkeit und Pragmatismus mehr erreichen als jeder „Krieg gegen Drogen“.
Kritische Fragen an die Politik, an Herrn Dr. Streeck und Frau Dr. Czyborra:
Was unternehmen Sie aktiv, damit sich die Zahl der Drogentoten endlich nachhaltig reduziert?
Warum können, trotz aller Beteuerungen, in Berlin nicht alle Hilfestellen und Lebensrettungsangebote ausreichend finanziert und ausgebaut werden?
Wieso werden Substitutionsärzt*innen weiterhin von Bürokratie und unsinnigen Regularien abgeschreckt, statt als Partner*innen in der Versorgung gewonnen?
Wie stellen Sie sich das Leben von Menschen im öffentlichen Raum überhaupt vor – als Problem, das wegkontrolliert wird, oder als Nachbar*innen, denen Sie Zugang zu Würde und Versorgung ermöglichen?
Unsere Vision: Menschenrechte statt Ausgrenzung!
Wir fordern: Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben mit Drogen!
Schluss mit Diskriminierung, Schluss mit Schikanen gegen Konsument*innen. Wir fordern den Ausbau der Selbsthilfe und von Peer-Unterstützung. Wir wollen, dass niemand mehr wegen sozialer Herkunft, Krankheit oder Substanzgebrauch aufgegeben wird.
Dafür müssen wir uns erinnern und kämpfen. Wir gedenken den Menschen, die wir verloren haben – und nehmen ihren Tod als Auftrag für unser Handeln.
JES bleibt kämpferisch, laut und unbequem, solange Lebensrettung am Geld, an parteipolitischen Spielchen und an Ignoranz scheitert.
Unsere Forderungen sind keine radikalen Experimente, sondern wissenschaftlich belegt und täglich in der Praxis bewiesen. Wir appellieren an Ihren Mut und Ihre Verantwortungsbereitschaft:
Machen Sie Berlin endgültig zur Hauptstadt einer fortschrittlichen, menschenwürdigen und für alle sicheren Drogenpolitik! Für die Verstorbenen. Für die Überlebenden.
Für ein menschenwürdiges Leben mit Drogen – ohne Rückschritt, ohne Angst, ohne Stigma!
Im Namen von JES – Junkies, Ehemalige, Substituierte – vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Mehr von Marc Seidel im My Brain My Choice Blog
Quellen:
- https://www.gedenktag21juli.de/ ↩︎
- https://www.gedenktag21juli.de/ ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/drogentote-streeck-100.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/drogentote-streeck-100.html ↩︎
- https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/drogentote-streeck-100.html & https://www.stern.de/gesundheit/hendrik-streeck-warnt–zahl-der-jungen-drogentoten-steigt-deutlich-35872744.html ↩︎
- https://drogennotdienst.de/2025/07/15/gedenktag-verstorbene-drogengebrauchende-2025/ ↩︎
- https://www.prop-ev.de/service/termin?tx_news_pi1[action]=detail&tx_news_pi1[controller]=News&tx_news_pi1[news]=164&cHash=3a75630020f4eea46e9379bbfcc9e4b6 & https://katho-nrw.de/news/detailansicht/suchtexperten-deimel-und-stoever-grundlegende-reform-der-drogenpolitik-ist-laengst-ueberfaellig ↩︎
- https://www.berlin.de/aktuelles/9481891–958090-drogencheckprojekt-wird-gut-angenommen.html ↩︎
- https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-22274.pdf ↩︎
- https://drogennotdienst.de/2025/07/15/gedenktag-verstorbene-drogengebrauchende-2025/ & https://www.berlin.de/aktuelles/9481891–958090-drogencheckprojekt-wird-gut-angenommen.html & https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-22274.pdf ↩︎
- https://www.jes-bundesverband.de/2021/09/zentrale-forderungen-fuer-die-deutsche-drogenpolitik-zur-bundestagswahl-2021/ & https://mybrainmychoice.de/ ↩︎
- https://mybrainmychoice.de/ ↩︎
- https://alternativer-drogenbericht.de/ & https://magazin.hiv/magazin/pionier-der-schadensminimierung/ ↩︎
- https://www.aekb.de/service-kontakt/veranstaltungskalender/details/substitution-mit-diamorphin ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/JES_(Selbsthilfenetzwerk) & https://katho-nrw.de/news/detailansicht/suchtexperten-deimel-und-stoever-grundlegende-reform-der-drogenpolitik-ist-laengst-ueberfaellig & https://www.aekb.de/service-kontakt/veranstaltungskalender/details/substitution-mit-diamorphin ↩︎
- https://www.akzept.eu/wp-content/uploads/2022/03/FDRStellungnahmeCannabisEntkriminalisierung.pdf & https://mybrainmychoice.de/https://www.swr.de/leben/gesundheit/cannabis-legalisierung-pro-und-contra-112.html ↩︎
- https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html?onlineressourcen_id=60733 & https://katho-nrw.de/news/detailansicht/suchtexperten-deimel-und-stoever-grundlegende-reform-der-drogenpolitik-ist-laengst-ueberfaellig & https://alternativer-drogenbericht.de/https://magazin.hiv/magazin/pionier-der-schadensminimierung/ ↩︎