Forderung 9 von 21: Harm Reduction und Safer Use-​Angebote flächendeckend, zielgruppenspezifisch ausbauen

Wirksame Drogen- und Suchthilfe ist akzeptierend und ergebnisoffen. Sie zwingt weder Therapieform noch Therapieziel auf: Ob Abstinenz, Teilabstinenz (das heißt die Abstinenz von bestimmten Substanzen, während andere weiter konsumiert werden) oder ob medikamentengestützte Behandlung bei Abhängigkeit – die verschiedenen Therapiearten müssen flächendeckend zugänglich werden.

Flächendeckend heißt auch im Gefängnis und in Unterkünften für Personen, deren Aufenthaltsstatus ungeklärt ist. Das Recht von inhaftierten Personen auf eine gleiche gesundheitliche Versorgung darf nicht weiter übergangen werden.

Peer-​Arbeit kann besonders mehrfach marginalisierte drogengebrauchende Personen erreichen und Teilhabe an strukturellen Angeboten, Informationen und sozialen Räumen ermöglichen, die ihnen per Gesetz zustehen, allerdings wegen struktureller Barrieren erschwert bis nicht zugänglich sind.

Ob gelegentlich, regelmäßig, ob mit Krankheitswert oder ohne, in einem Substitutionsprogramm oder ehemals konsumierend: Personen mit Konsumerfahrungen verfügen über praktisches Wissen, das auch anderen helfen kann, mit Risiken für die Gesundheit bewusst umzugehen und Schäden in Zusammenhang mit dem Gebrauch von Substanzen zu vermeiden. Dieses Wissen muss als relevantes Fachwissen anerkannt werden. Hierzu zählt ebenfalls das Wissen über den Umgang mit struktureller Diskriminierung in Institutionen des sozialen und medizinischen Versorgungswesens (Forderungen 14 & 15).

Weitere Mängel in der gesundheitlichen Versorgung und Prävention von gesundheitlichen Schäden sind zu beheben, um das Recht auf Gesundheit von Personen, die illegalisierte Drogen nehmen, sicherzustellen:

Der Überbegriff der „Harm Reduction“ (Schadensminderung) hat inzwischen Eingang in Fachkreise und manche offizielle Leitlinien gefunden, allerdings mit verkürzenden Definitionen, welche die Abwendung der Schäden der gescheiterten, kontraproduktiven Drogenprohibition und anderen staatlichen Handels und Nicht-​Handelns gegenüber rassifizierten und marginalisierten Bevölkerungsgrupen auslassen. Der Begriff der „Harm Reduction“ ist vor diesem Hintergrund politisch gewachsen. Selbstorganisation und Fürsorge in Communities und Nachbarschaften untereinander, die weit verbreitete nicht-​institutionalisierte Drogenhilfe und die gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit den Traumata sowie gesundheitlichen und biographischen Folgen der Strafverfolgung dürfen in der Begriffsdefinition nicht weiter unterschlagen und unsichtbar gemacht werden.

Die unter dieser Forderung nachfolgend gelisteten, instututionellen und staatlich zu verantwortenden Gesundheitsleistungen dürfen nicht nur als Abmilderung der schädlichen Folgen der Drogenprohibition gehandhabt werden, wie es oft der Fall ist, sondern müssen immer vom Einsatz für Entkriminalisierung und Legalisierung (Forderung 1), der Integration des relevanten Wissens (Forderungen 13, 14, 15 und 16) und der Anerkennung aller Arten von Schäden und Wiedergutmachung (Forderungen 17, 18, 20 und 21) begleitet werden.

Harm Reduction-​Angebote sind kein „Nice to have“, keine „Extraleistung“ des Staates, sondern korrigieren gesellschaftliche Schäden der Strafverfolgung und auch die Vernachlässigung wirksamer Elemente der Suchthilfe, Prävention und Rehabilitation. Es geht um die Sicherstellung von Gesundheitsrechten einer lange nachrangig behandelten, mit Kriminalisierung belasteten Personengruppe.

Harm Reduction muss per Definition Community-​zentriert sein, weil sich sonst ein paternalistischer, pathologisierender Ansatz durchsetzt. Der Gebrauch illegalisierter Substanzen wird auch im Gesundheits- und Hilfesystem oft noch grundsätzlich problematisiert und als vermeidbares, verzichtbares Risiko verstanden. Mitsprache in der Behandlung und in der Entwicklung von Therapieformen muss zugestanden und aktiv gefördert werden.

  • Schadensmindernde Programme müssen ausgebaut werden und umfassen: Saubere Konsumutensilien an Vergabestellen, öffentlich zugängliche Automaten mit Utensilien zur Prävention von Infektionen mit übertragbaren Krankheiten zu allen Uhrzeiten, medikamentengestützte Behandlung von Opioid-​Abhängigkeit mit der uneingeschränkten Auswahl an Substituten („Ersatzstoffen“) und Diamorphin („Echtstoff“), einfachen Zugang zu Naloxon-​Nasenspray, Informationsmaterial über Safer Use-​Praktiken, typische Wirkungen und Dosierung von Substanzen, Aufklärung über den Umgang mit Notfällen bei sich und anderen.
  • Die Diamorphin-​gestützte Behandlung muss den Substitutionsbehandlungen mit Ersatzstoffen rechtlich gleichgestellt werden. Zuletzt wurden rechtliche Hürden nur teilweise verringert. Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Personen mit einer Heroinabhängigkeit scheinen immer noch stärker zu wiegen als die Evidenz und der Wille, eine wirksame Behandlungsform mehr Menschen zugänglich zu machen.
  • Die Genehmigung von Drogenkonsumräumen darf nicht mehr vom Willen der Landesregierungen abhängen (Forderung 19).
  • Wenn in Drogenkonsumräumen ein Mikrohandel mit illegalisierten Stoffen wie in der Schweiz toleriert wird, bringt dies den Handel einzelner Konsumeinheiten von unsicheren Orten in geschützte Räume. So wird weniger an Ort und Stelle des Erwerbs in der Öffentlichkeit konsumiert, sondern in der geschützten und sicheren Umgebung der Einrichtung.
  • Genderspezifische Angebote: Der Mangel an sicheren Rückzugsräumen und queerfeministischen Angeboten für Frauen, LGBTQIA+ und Mütter muss behoben werden. Diese Angebote müssen unter dem Aspekt von Mehrfachdiskriminierung intersektional und niedrigschwellig arbeiten. Im Bereich der Suchthilfe gibt es zudem noch zu wenige Angebote, die schädliche Vorstellungen von Männlichkeit adressieren; diese Angebote dürfen bei der öffentlichen Mittelvergabe aber nicht in Konkurrenz zu Ersteren stehen.
  • Der formelle Übertritt vom Jugendhilfe- zum Gesundheitssystem für Erwachsene darf keine negativen Auswirkungen für Personen haben, die sich in Behandlung befinden.
  • Gleichzeitige Behandlungsangebote von Sucht und psychischen Krankheiten wie Depression oder Angststörungen müssen zur Norm werden. Sucht, Depressionen, Angst und andere psychische Belastungen oder Krankheiten können in einer Wechselwirkung stehen, bei der die Sucht weniger das primäre Problem, sondern vielmehr der Bewältigungsmechanismus ist. Teilweise liegt keine Sucht nach medizinisch-​psychiatrischen Diagnose-​Kriterien vor, sondern eine (Selbst-)Medikation. Der Zugang zu allgemeiner gesundheitlicher Unterstützung und allgemeiner Psychotherapie wird regelmäßig automatisch verwehrt, sobald ein Gebrauch illegalisierter Substanzen anvertraut oder anders bekannt wird. Eine Abstinenz wird, im Unterschied zu Alkohol und Nikotin, zur Voraussetzung für die (Weiter-)Behandlung gemacht statt im Einzelfall einen geeigneten Behandlungsplan zu erarbeiten. Der Generalverdacht, als Person, die illegalisierte Substanzen gebraucht oder eine Suchtdiagnose erhalten hat, für eine klassische Psychotherapie ungeeginet zu sein, muss dringend ablegt werden.
  • Das Recht auf soziale, gesundheitliche und medizinische Versorgung muss unabhängig vom Aufenthalts- und Versicherungsstatus gelten. Die Gesundheitsrechte von geflüchteten Personen können nur gewahrt werden, wenn die Sprachbarrieren überbrückt oder abgebaut und zum Beispiel zur Verständigung in Arztpraxen Dolmetscher*innen zur Verfügung gestellt werden.
  • Sozialarbeiter*innen brauchen ein Zeugnisverweigerungsrecht, um rechtssicher voll und ganz an der Seite ihrer Klient*innen stehen zu können.

Zum Weiterlesen:

Der #MyBrainMyChoice-​Aktionsplan

Nach oben scrollen