Soziale Arbeit in der Drogenhilfe: Interview

Dieser Artikel erschien zuerst im Drogenkurier, dem Magazin des JES-​Bundesverbands. Wir danken dem JES-​Bundesverband für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Alle Ausgaben des Drogenkuriers und das Bestellformular fürs Abo finden sich hier. Alle Ausgaben stehen zudem kostenlos als PDF-​Download zur Verfügung. Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 141, die hier vollständig gelesen werden kann.

Ein Interview mit Ralf Rattmann

Ralf Rattmann arbeitet seit 1997 als Sozialarbeiter für die vista gGmbH. Mit ca. 240 Mitarbeitenden ist die Organi­sation in 35 Einrichtungen an 15 Standorten in Berlin tätig. Wir haben mit ihm über seine Erfahrungen und Eindrücke in der Beratung und Betreuung von Menschen mit Opioid­abhängigkeit gesprochen.

Wie sieht Ihre Arbeit bei vista aus?

Wir haben offene Sprechzeiten, sodass Menschen einfach unangemeldet herkommen können. Ich bin in der Suchtberatung für die Region Berlin-​Mitte tätig und betreue vor allem Menschen in der Haft. Alle zwei Wochen fahre ich in die JVA Heidering. Dort gehe ich von Haus zu Haus.

Den Rest der Zeit bin in der Beratungsstelle tätig. Wir sind eine integrative Suchtberatungsstelle und betreuen hier nicht nur Abhängige von illegalen Substanzen, sondern auch Alkohol- und Medikamentenabhängige. Insgesamt haben wir hier ein gutes Komplettpaket.

Wie viele Klient*innen mit Opioid­abhängigkeit haben Sie aktuell? 

Momentan sind es zehn Klient*innen innerhalb und vier weitere außerhalb der Haftanstalt. Früher habe ich mich um viel mehr opiatabhängige Menschen gekümmert Die Psychosoziale Betreuung (PSB) ist nach den Richtlinien nicht mehr vorgeschrieben, sondern empfohlen, deshalb werden weniger Klient*innen durch die Ärzt*innen regelmäßig zur Klärung des Hilfebedarfs in die Beratungsstellen geschickt.

Wie hoch ist bei Ihnen der Anteil an Klient*innen, die ein Depot Medikament als Substitut erhalten? 

Das ist bei mir etwas höher als bei allen anderen Kolleg*innen in meinem Umfeld, weil ich in der Haftanstalt arbeite. Dort wird vorrangig mit dem Depot substituiert. Viele kommen in der Haft gut mit der Depotspritze zurecht und empfinden es auch als befreiend. Nach der Entlassung werden viele Substituierte nicht mit der Depotspritze weiter behandelt. Außerhalb der Haftanstalt habe ich derzeit einen Klienten, der die Depotspritze bekommt.

Welche Therapieziele haben Ihre Klient*innen?

Naja, die meisten Klient*innen formulieren es so: Ich möchte nicht draußen weitermachen, wie es bisher gelaufen ist. Ich möchte wieder Beschäftigung und eigenen Wohnraum. Ich möchte ein Stück weit Normalität. Ich möchte wieder arbeiten können und mein eigenes Geld verdienen. Ich möchte eine Beziehung. Sie möchten wieder fähig sein, sich um ihre Dinge zu kümmern. Das sind die häufigsten Ziele, gerade bei den opiat­abhängigen Klient*innen. Sie möchten nicht andauernd mit der Polizei oder mit der Justiz in Berührung kommen.

Wie kann aus Ihrer Sicht die Soziale Arbeit die Arbeit der Sucht­­medi­zi­ner*innen unterstützen? 

Das, was wir machen, ist eine wichtige Sache. Wir bieten hier psychosoziale Betreuung an für Menschen, die substituiert werden. Und wenn man sich mal so die Geschichte der PSB anschaut, dann ist das eine Dreiecksbeziehung. Der Klient ist abhängig vom Arzt. Der Arzt hat Vorgaben, wie er arbeiten soll. Und das passt manchmal nicht ganz zusammen. Der Klient möchte z. B. das Medikament wechseln. Er hat Wünsche und Anliegen die er vielleicht nicht so formulieren kann, dass sie auch ankommen. Der Arzt hat vielleicht eine andere Vorstellung was der beste Weg der Behandlung ist. Und da spielen wir als Mittler eine wichtige Rolle und können so zu einer guten und einvernehmlichen Behandlung beitragen. Deswegen sitzen wir auch oft in den Arztpraxen oder haben dort Räumlichkeiten, wo auch die Ärzte sind. So bleiben die Wege für unsere Klient*innen kurz.

Ich bereite Behandlungen mit den Klient*innen vor, wenn sie eine ambulante, stationäre oder teilstationäre Therapie anstreben, vermittle in andere Hilfemaßnahmen oder die Substitution unterstütze die Menschen sozialarbeiterisch z. B. bei Problemen mit Ämtern oder unterstütze die Reduzierung des Konsums.

Wie gestaltet sich die Arbeit mit den Klient*innen, die die Depotspritze erhalten? 

Für diejenigen, für die es passt, finde ich die Depotspritze sehr gut. Es ist schade, dass es weiterhin schwierig ist Ärz­t*in­nen zu finden, die eine Substitution mit einem Depot Präparat aus der JVA fortsetzen. Oft müssen Klient*innen, wie am Beginn einer Substitution, erstmal wieder jeden Tag in die Praxis. Das ist für viele natürlich frustrierend. Ich bedaure, dass diese Übergänge immer wieder durch solche Brüche erschwert werden. Ich glaube, man muss daran arbeiten, dass wenn jemand mit dem Substitut gut zurechtkommt, es auch das Mittel seiner Wahl bleibt.

Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass Sie die verschiedenen Substitute kennen?

Das halte ich für sehr wichtig, weil sonst Klient*innen und Suchtberater*innen aneinander vorbeireden. Ich kann nur zu den Substituten beraten, wenn ich das Wissen habe sowie die Vor- und Nachteile kenne. Sicherlich habe ich auch Wissenslücken, aber im Großen und Ganzen denke ich, dass meine Kolleg*innen und ich da gut beraten können. Wir haben hier bei vista auch regelmäßige Substanzschulungen, wo es auch um pharmazeutische Entwicklungen geht und Fortbildungen zur aktuellen Rechtslage.

Welche Empfehlungen oder Tipps würden Sie Kolleg*innen und Klient*innen in Bezug auf die Depotspritze geben?

Was ich den Klient*innen mitgeben wür­de ist, dass sie darüber nachdenken sollten, ob die Depotspritze für sie eine Option ist. Diese Art der Substitution erlaubt mehr Freiheit und mehr Unabhängigkeit. Sie sollten dazu ggf. das Gespräch mit ihrem Arzt suchen, ob es ihnen dabei helfen kann, ihren Lebensalltag freier zu gestalten. Sie müssen z. B. nicht mehr zu Hause aufpassen, wo sie das Substitut aufbewahren. Das gilt gerade, wenn Kinder im Haushalt sind. Sie haben weniger Arzttermine können sich mehr um Themen wie Arbeit, Beschäftigung oder eine andere Freizeitgestaltung kümmern und werden unabhängiger von Kontakten zu anderen Drogengebrauchenden. Nach meinen Erfahrungen ist mit der Depotspritze ein Mehr an Freiheit möglich. 

Für die Behandlung nach der Haft sollten sich die Kolleg*innen dafür einsetzen, dass die Behandlung auch nach Haft weitergeführt oder eine gute Überleitung in eine andere Medikamentierung möglich wird.

In der Suchtberatung sollten die Bera­ter*innen ein fundiertes Wissen haben und sich auch mit dem Klient*innen austauschen können, wie es mit der Dosierung funktioniert, die von der Ärztin, dem Arzt, verordnet wurde. Das ist wichtig. Und ich würde mir wünschen, dass sich die niedergelassenen Ärzt*innen mehr auf ­Depotpräparate einlassen würden bzw. sich die Richtlinien und Abrechnungsgrundlagen so verändern, dass, die in der Haft darauf eingestellten Kli­ent*in­nen auch damit weiterbehandelt werden können.


Der Titel wurde geändert. Im Original lautet er: „Soziale Arbeit in der Drogenhilfe – Ein Mehr an Freiheit möglich“

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