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Der Wiener Konsens (eine Erklärung findet ihr im ersten Artikel) hat wieder zugeschlagen: Die Abstimmung über die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO, World Health Organization) aufgestellten Empfehlungen für Cannabis wird auf den Folgetermin der 63. CND-Sitzung im Dezember 2020 vertagt. Grund dafür sei die Komplexität der Entscheidungsfindung und die Tatsache, dass nicht deutlich klargestellt sei, welche Konsequenzen und Implikationen die Empfehlungen nach sich ziehen. Die Entscheidungsfindung über die Empfehlungen ist tatsächlich kompliziert, man schaue sich nur den vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC, United Nations Office on Drugs and Crime) veröffentlichten Entscheidungsbaum an, der für vier Unterpunkte von nur einer der sechs Empfehlungen der WHO konzipiert wurde.
Die eigentlichen Gründe für den Aufschub dürften aber eher der Wiener Konsens und die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Länder sein. Wenn es keinen Konsens gibt, gibt es auch kein Ergebnis. Insbesondere Russland und China haben sich massiv gegen die Empfehlungen ausgesprochen. Russland gab an, besonderen Fokus auf das Thema Jugend und Prävention zu legen, China habe Angst davor, dass die Empfehlungen dazu beitragen würden, dass Cannabis als weniger schädlich betrachtet werden könne. Des Weiteren sei die Faktenlage zu Cannabis noch nicht eindeutig geklärt. Puh. In jeglicher Hinsicht falsche Statements wie diese machen drogenpolitischen Aktivismus auf UN-Level so frustrierend.
Doch es gibt auch Positives zu berichten: Das Nebenevent von Students for Sensible Drug Policy (SSDP) „Young People Use Drugs – Bridging The Gap Between Human Rights And Key Affected Populations“ lief erfolgreich und das internationale Projekt Paradigma, ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich im Bereich Jugend und Drogenpolitik beschäftigen, konnte vorgestellt werden. Zum Video über das Event geht es hier entlang.
Ein weiteres gut besuchtes Nebenevent war „Drug Reform: From A Punitive To A Supportive Approach – The Norwegian Proposal“. Der konservative norwegische Gesundheitsminister Bent Høie stellte dabei in seinem Eingangsstatement fest, dass der Ansatz der Strafverfolgung kein geeignetes Mittel sei, um Drogenkonsum zu verhindern. Die norwegische Regierung befindet sich gerade im Prozess, den persönlichen Konsum von Drogen zu entkriminalisieren. Bis 2021 soll der gesetzliche Rahmen dazu fertig gestellt werden. Stellt euch das vor: Ein konservativer Politiker gesteht, dass Strafverfolgung bei Drogenkonsum keinen Sinn ergibt. Bent Høie bekommt dafür von mehreren Seiten Zuspruch: Der WHO, Teilen des UNODC, dem Büro des Hohen Kommisars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR, Office of the High Commissioner for Human Rights) und dem Präsidenten des Suchtstoffkontrollrates (INCB, International Narcotics Control Board).
Der Zuspruch des Präsidenten des INCB, Cornelis de Joncheere, ist dabei besonders bemerkenswert, da der Rat eigentlich nicht für seine progressive Meinung bekannt ist. Um das zu verstehen folgt nun ein Exkurs in die Geschichte des INCB:
Das INCB ist das Kontrollgremium der drei internationalen Drogenkonventionen und wurde 1968 gemäß Beschluss der Single Convention on Drugs von 1961 gegründet. Das Gremium setzt sich aus 13 Personen zusammen, die vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC, Economic and Social Council) für fünf Jahre gewählt werden. Zehn davon werden aus einer Liste mit Personen gewählt, die von den Mitgliedstaaten nominiert wurden. Die weiteren drei Mitglieder werden aus einer Liste an Nominierten gewählt, die von der WHO aufgrund ihrer medizinischen, pharmazeutischen oder pharmakologischen Perspektive vorgeschlagen wurden.
Das Kontrollgremium hat zwei Hauptfunktionen:
- Es beobachtet den legalen Handel mit Drogen, Arzneimitteln und Chemikalien und kooperiert mit Regierungen, um den dafür vorgesehenen Umgang mit diesen Substanzen zu überwachen.
- Es beobachtet die Herstellung illegaler Drogen, den Handel und den Konsum. Das INCB identifiziert Schwächen in nationalen und internationalen Drogenkontrollsystemen und hilft Regierungen, diese zu korrigieren. Außerdem beurteilt es, ob Chemikalien, die für die Herstellung illegaler Drogen benötigt werden, unter internationale Kontrolle gestellt werden sollen.
Dazu kommen Verantwortlichkeiten, die sich aus den zwei Hauptaufgaben ableiten. Zu nennen sind unter anderem die Einschätzung von Regelungen und Maßnahmen nationaler Regierungen und ob diese den drei internationalen Drogenkonventionen entsprechen.
Über die Jahre hat sich das INCB einen Namen als konservativer Aufpasser gemacht, der mit dem Finger auf Länder zeigt, die es wagen, die drei Drogenkonventionen zu missachten und progressive Elemente in ihre Drogenpolitik aufzunehmen. Dazu gehört zum Beispiel die Kritik an Drogenkonsumräumen, da diese Drogenkonsum begünstigen und den illegalen Markt unterstützen würden. *
Auch schwieg das INCB lange zur Anwendung der – menschenrechtswidrigen! – Todesstrafe für Verurteilungen, die mit Drogen in Verbindung standen. Immerhin hat es seine Haltung dazu überwunden und drängt inzwischen intensiv auf ihre Abschaffung. Abgesehen davon kritisiert das INCB jedoch weiterhin – gemäß seiner Aufgaben, die Umsetzung der Konventionen zu überwachen – die internationale Cannabis-Legalisierungsbewegung. Diese sei „bedenkenswert“, da die Legalisierung insbesondere für Jugendliche, ein „ernsthaftes gesundheitliches Risiko“ darstelle. **
Was hat sich also mit dem neuen Präsidenten Cornelis de Joncheere verändert? Wer den aktuellen Jahresbericht des INCB liest könnte meinen, dass sich nichts an der konservativen Einstellung verbessert hat. Luxemburg hat Ende 2018 angekündigt, Cannabis zu legalisieren und bekam dafür einen fettgedruckten Eintrag, der alle Staaten daran erinnern soll, dass der Freizeitgebrauch von Drogen verboten ist. Und doch ist das INCB auf einem progressivem Weg: Bereits letztes Jahr wurde ein „Alert“ veröffentlicht, der die Kriminalisierung von persönlichem Konsum kritisiert. Dies wurde nun vom Präsidenten des INCB auf oben genanntem Nebenevent wiederholt: Die Entkriminalisierung von persönlichem Konsum sei im Rahmen der internationalen Drogenkonventionen möglich. Und diese Möglichkeit werde nicht ausreichend genutzt!
Und noch ein weiteres Statement des Präsidenten überrascht: Bei der Vorstellung des aktuellen INCB Jahresberichts sagte er: „(…) es ist offensichtlich, dass das Verbieten von weiteren 20.000 chemischen Substanzen unsere Probleme nicht lösen wird. Wir haben einige fundamentale Angelegenheiten innerhalb der Konventionen, mit denen sich die Staaten beschäftigen müssen. Und nochmal: Wir müssen erkennen, dass die Konventionen vor 50 und 60 Jahren geschrieben worden sind (…) und ich denke, es ist eine angemessene Zeit, um zu prüfen, ob diese ihren Zweck noch erfüllen oder ob wir alternative Instrumente und Ansätze brauchen, um mit diesen (Drogen-) Problemen umzugehen.“
Die Kritik des INCB Präsidenten an den Konventionen ist ein Novum. Er betont damit deutlich, dass simple Verbotsmechanismen nicht zielführend sind: Bei der 62. Sitzung letztes Jahr wurden synthetische Cannabinoide wie MMB-FUBINACA und MAB-CHMINACA verboten. Dieses Jahr folgten die Stoffe 5F-MDMB-PICA, 4F-MDMB-BINACA und AB-FUBINACA. Die Frage bleibt, welche synthetischen Cannabinoide mit kryptischen Namen im nächsten Jahr verboten werden, da Jahr für Jahr neue, minimal chemisch veränderte Stoffe auf den Markt kommen.
Im Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Verbotspolitik und den Drogenlaboren rennt die Politik seit Jahren hinterher. Das INCB und die Gremien der UN scheinen dies inzwischen begriffen zu haben. *** Es liegt nun an den Mitgliedsstaaten, sich weiter für eine progressive Drogenpolitik auf internationaler Ebene einzusetzen.
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Fußnote: In diesem Dokument der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen- und Drogensucht (EMCDDA) kann man nachlesen, warum dies nicht der Fall ist. Zurück zur Textstelle
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Die Forschung zu den Auswirkungen der Cannabislegalisierung auf jugendlichen Konsum und Jugendschutz kommen noch zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Es lässt sich somit kein eindeutiger negativer Zusammenhang beweisen. In der Prohibition gibt es nur wenig bis keinen Jugendschutz. Zurück zur Textstelle
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Die UN beteiligt sich mit mehreren Gremien an den Sitzungen der CND. Sie haben keine Stimmgewalt (die bei den Mitgliedsländern liegt) und nehmen eine normative Rolle ein, die aber nicht unterschätzt werden darf. Am relevantesten sind hierbei das UNODC, die WHO und das INCB. Außerdem haben UN AIDS, das OHCHR (Office of the High Commissioner for Human Rights), die UNIDO (United Nations Industrial Development Organization), das DPKO (UN Department of Peace Operations), das UNICRI (United Nations Interregional Crime And Justice Research Institute) und das UNDP (United Nations Development Programme) an der 63. Sitzung der CND teilgenommen. Diese Organisationen sind zwar nicht direkt am Prozess, aber an der Umsetzung drogenpolitischer Maßnahmen beteiligt. Außerdem sind sie bei mehreren Nebenevents präsent oder organisieren diese mit. Ende 2018 wurde die “UN Common Position on Drugs” verabschiedet, in der sich 31 UN Gremien zu einer menschenrechtsbasierten Drogenpolitik bekennen. Hier sprechen sich die Gremien einstimmig für die Entkriminalisierung von Drogenkonsum und Besitz bei persönlichem Gebrauch aus. Zurück zur Textstelle
[…] Drogenpolitischer Fortschritt bei der UN? Ergebnisse der CND-Sitzung und progressive Töne beim I… (Nils Biedermann, 2020) […]