Stadtansicht von Portland, Oregon

Oregon’s Entkriminalisierung und Rekriminalisierung

Eine kommentierte Leseliste von Philine Edbauer und INPUD’s Handlungsempfehlungen für eine vollständige Entkriminalisierung


Auf dieser Seite:


Durch eine erfolgreiche Volksabstimmung im Jahr 2020 waren 2021 im US-​Bundesstaat Oregon (an der Westküste nördlich von Kalifornien) nach dem Vorbild Portugal kleine Besitzmengen für alle illegalisierten psychoaktiven Substanzen entkriminalisiert worden, bspw. bis zu 2g Kokain und bis zu 5 Ecstasy-​Pillen. Wie zuvor auch bei Oregon’s Legalisierung von Cannabis wurden die Konsumierenden vom Strafrecht entlastet, im Unterschied dazu blieb jedoch, ebenso wie in Portugal, 

  • das Angebot unverändert nur illegal verfügbar, d.h. lediglich mit unkontrollierter, unklarer Dosis und unbekannten Beimengungen von mitunter gefährlichen Streckmitteln, und 
  • war es keine vollständige Entkriminalisierung des Drogengebrauchs, sondern mit einer Pflicht zur Intervention verbunden: Wer von der Polizei aufgegriffen wurde, musste ein unverbindliches Beratungsgespräch führen oder bis zu 100 USD Bußgeld zahlen.
  • Ebenfalls nach dem Vorbild Portugals enthielt das Entkriminalisierungs-​Gesetz eine Verpflichtung des US-​Staates zum intensiven Ausbau des Hilfessystems.

Die meisten Drogengebrauchenden haben zwar keinen Hilfebedarf, sondern ein Bedürfnis nach einem Ende der kontraproduktiven repressiven staatlichen Einmischung (oder beides). Durch den neuen Fokus auf den Nachholbedarf des Staates, niedrigsschwellige Angebote zu schaffen, den freiwilligen Charakter der Hilfsangebote und vor dem Hintergrund von über 50 Jahren Strafverfolgung (und diese deutlich ungleich gegen Schwarze und Indigene Oregonier) galt das neue Gesetz („Measure 110“) jedoch als vielversprechender drogen- und suchtpolitischer Meilenstein.

Seit Frühjahr 2024 wird die Entkriminalisierung nun wieder zurückgedreht. Die öffentlichen Investitionen für das Hilfesystems bleiben, jedoch verliert das Angebot – je nach Umsetzung von Landkreis zu Landkreis (county) – seinen freiwilligen Charakter. Gemäß mehrerer UN-​Stellungnahmen gilt dies nicht als „Hilfe“; wenn „Therapie“ vorgeschrieben wird, ist dies menschenrechtswidriger Zwang. (Siehe: https://​undocs​.org/​A​/​H​R​C​/​5​4​/53, Punkt 12–14, insb. 13)

Politisch ist die Entkriminalisierung in Oregon gescheitert. Die Behauptung, dass sie in der Sache, also für die Gesundheit und Sicherheit der Menschen gescheitert sei, ist aber falsch. Die Entkriminalisierung wurde Opfer einer politischen Debatte, die mit echter Fürsorge, Menschlichkeit und Fakten wenig bis nichts zu tun hatte.

Zwei prominente Falschaussagen, die sich bis in die deutsche Debatte tragen, lauten:

  • Die Entkriminalisierung hätte zum Anstieg der Todesfälle geführt.
  • Die Entkriminalisierung sei für das gestiegene Elend im Öffentlichen Raum verantwortlich.

Die nachfolgende Leseliste enthält Artikel, Studien und Kommentare von Expert*innen vor Ort:

Sie erklären und belegen, warum es sich bei diesen und weiteren Behauptungen zwar um zeitliche Korrelationen (also gleichzeitige Entwicklungen) handelt, aber nicht um Kausalitäten. (Auf Englisch; Bei Bedarf Übersetzungsprogramme wie deepl​.com bzw. die Untertitel-​Funktion bei YouTube verwenden.)


Erwartet uns auch in Deutschland eine Rekriminalisierung?

Friedrich Merz und Markus Söder wollen die Entkriminalisierung bzw. Legalisierung von Cannabis-​Besitz, ‑Eigenanbau und ‑Anbauclubs, also das CanG vom 1.4.2024, wieder rückgängig machen. Das ist inzwischen eines der Kernversprechen ihres Wahlkampfes für die Bundestagswahl im Herbst 2025. Sollte es die CDU/​CSU wieder in die Regierung schaffen, wonach es momentan aussieht, entscheidet sich die Rekriminalisierung von Cannabis wohl an diesen beiden Faktoren: 

  1. Wären die Koalitionspartner, die das CanG jetzt eingeführt haben, zu einer vollständigen oder teilweisen Rekriminalisierung bereit? Bzw. behalten die drogen- und suchtpolitisch progressiven Kräfte der Ampel-​Parteien und ‑Fraktionen genügend Stimmenanteil und zivilgesellschaftliche Rückendeckung, um das CanG überhaupt standhaft verteidigen zu können?
  2. Hat sich der neue rechtliche Umgang mit Cannabis bis dahin ausreichend in der Gesellschaft, auch unter Nicht-​Konsumierenden, normalisiert, sodass kein relevantes öffentliches Interesse mehr an einem Zurück zur Strafverfolgung besteht?

Ist die Entkriminalisierung von Besitzmengen eine vielversprechende Strategie gegen 50 Jahre Prohibition?

Oregon’s Rekriminalisierung ist nicht der erste und einzige Fall, bei dem eine zunächst vielversprechende Herabstufung der Delikte vom Straftrecht zum Verwaltungsrecht (Ordnungswidrigkeiten) letztlich nur zu einer Neuerfindung des Strafens wurde. Das International Network of People who Use Drugs INPUD diskutiert in ihrem Bericht „Drug Decriminalisation: Progress or Political Red Herring?“ von 2021 die weltweiten Erfahrungen und leitet die folgenden Handlungsempfehlungen ab (Übersetzung durch d. Verf.):

  1. Ein Entkriminalisierungsmodell muss die Menschen, die Drogen gebrauchen, vollständig entkriminalisieren. Dies umfasst: 
    • Die Abschaffung aller verwaltungsrechtlichen Sanktionen (Ordnungswidrigkeiten, Bußgelder), Rechtszwängen und Mechanismen zur Überwachung, Kontrolle und Bestrafung des Drogengebrauchs und ‑besitzes,
    • die Abschaffung willkürlicher Höchstmengen oder Schwellenwerte, die zu Vorstrafen führen, 
    • die Gewährleistung, dass die Einsatzkräfte der Polizei die mit der vollständigen Entkriminalisierung verbundenen politischen und rechtlichen Änderungen vollständig verstehen, und 
    • das Etablieren einer unabhängigen und kontinuierlichen Überwachung der Justizsysteme.
  2. Menschen, die Drogen gebrauchen, und die von ihnen geleiteten Organisationen müssen in alle Phasen des Reformprozesses einbezogen werden. Dazu gehört die Bereitstellung von klaren, zugänglichen und glaubwürdigen Informationen für die Konsumierendengruppen über alle politischen und rechtlichen Änderungen.
  3. Die vollständige Entkriminalisierung muss außerdem konkrete Strategien zur Beendigung der Stigmatisierung und Diskriminierung von Konsumierenden illegaler Drogen umfassen und eine angemessene Finanzierung solcher Maßnahmen sicherstellen.
  4. Die vollständige Entkriminalisierung muss den Aufbau und Ausbau des Zugangs zu Maßnahmen der Schadensminimierung (Harm Reduction) und Sozialleistungen für Drogengebrauchende beinhalten, die auf die regionalen Kontexte und Bedürfnisse zugeschnitten sind.
  5. Wenn sich ein Land für eine vollständige Entkriminalisierung entscheidet, sollte dies nur ein ein Teilschritt zum wegweisenden Ziel der vollständigen und zeitnahen legalen (Markt-)Regulierung aller Drogen sein.

Dieser Beitrag wurde ermöglicht von den Unterstützer*innen des Drogenpolitik Briefings.

Nach oben scrollen