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Kokain: Aus dem gescheiterten Drogenkrieg lernen

Diese Seite wurde am 26.3.2024 aktualisiert und erweitert.


Die simplen Beschämungen „Da klebt Blut dran“ und „Die Leute sollten aufhören, Kokain zu konsumieren“ bringen uns nicht weiter.

Einen Kokain-​Fang nach den anderem in Polizeimeldungen und den Medien als „DEN Schlag gegen die Organisierte Kriminalität“ zu feiern, bringt uns ebenfalls nicht weiter.


Für wirksame Lösungen zur Reduzierung der Gewalt im illegalen Drogenhandel ist es unumgänglich, über die Rolle der Drogenpolitik zu sprechen.

Wir müssen über das Zusammenspiel der deutschen, europäischen und internationalen Strafverfolgung mit der internationalen organisierten Kriminalitität sprechen. Denn der folgenschwere Teufelskreis aus Aufrüsten und Intensivieren der Gewalt lässt sich in der Drogenpolitik durchaus verlassen.


Wir müssen die Empfehlungen von Fachkommissionen diskutieren.

Vor allem müssen wir damit anfangen, die Empfehlungen von drogenpolitischen Expert*innen in Debatten und Berichterstattung über den Kokainhandel nicht weiter außen vor zu lassen.Gute Wege für einen wirksamen Umgang mit dem Kokainhandel und dem in Europa steigenden Kokainkonsum wurden längst erarbeitet. Zum Beispiel stellt die profilierte Global Commission on Drug Policy im ihrem Bericht, der auch auf Deutsch verfügbar ist, fest:

Die Staaten müssen die negativen Auswirkungen repressiver Ansätze anerkennen und akzeptieren, dass eine Prohibition kriminelle Organisationen begünstigt und stärkt. Diese Einsichten müssen öffentlich gemacht werden und in die nationalen Debatten einfließen, um eine mutige Reform der Drogenpolitik voranzutreiben.

Das Fokussieren der repressiven Drogenpolitik auf Kleinkriminelle und Menschen, die Drogen konsumieren, hat die negativen Folgen für die Volksgesundheit verschärft, Menschenrechtsverletzungen verursacht, die Strafrechtssysteme überfordert und wertvolle Ressourcen gebunden, die dadurch in der Verfolgung der gefährlichsten Gruppierungen der organisierten Kriminalität fehlen. Mancherorts führt dieser Ansatz zu einer Militarisierung der Gesellschaft und untergräbt die Sicherheit, die staatliche Rechenschaftspflicht, die Aufsicht über die Strafverfolgung, die Regierungsführung und die Legimitation des Staates. Diese weitreichenden Auswirkungen der Prohibition schwächen das Sozialgefüge und korruptionsanfällige staatliche Institutionen und führen zu überfüllten Gefängnissen. Sie bieten dem organisierten Verbrechen einen fruchtbaren Boden für seine Aktivitäten und für das Anwerben von Menschen ohne wirtschaftliche Perspektive und korrupten Beamten.“

(Zum Bericht, 2020, S. 13)


Die Verbotspolitik ist ein systematisch globales und konkret lokales Menschenrechts-Problem.

2023 hat der höchstrangige Menschenrechts-​Beauftragte der UN, UN-​Hochkommissar Volker Tür, in seinem Bericht an den UN-​Menschenrechtsrat das Problem der „Drogenbekämpfung“ deutlich benannt und betont, dass kleine Reförmchen der jetzigen Strategien nicht ausreichen, um die verheerenden Folgen für die Weltbevölkerung, inbesondere die arme, zu beheben.

Den internationalen Kommentar von 133 Organisationen der Zivilgesellschaft haben wir ins Deutsche übersetzt und im Blog veröffentlicht (hier lesen). Darin heißt es zusammenfassend:

Der neue Bericht beinhaltet überdies eine systematische Bestandsaufnahme der stark angewachsenen Anzahl drogenpolitischer Handlungsempfehlungen von UN-Menschenrechtsexpert*innen. Somit liefert der Bericht eine Vorlage für die Entwicklung von einem Vorgehen, das auf der Achtung der öffentlichen Gesundheit und den Menschenrechten beruht. Einige der wichtigsten Erkenntnisse sind:

  • Die Anerkennung von Schadensminimierung (harm reduction) als ein zentrales Element des Rechts auf Gesundheit
  • Die Benennung der Militarisierung der Drogenkontrolle als Motor staatlicher Gewalt
  • Der Aufruf zur Abschaffung der Todesstrafe für Drogendelikte
  • Die Anerkennung der Rolle unverhältnismäßiger Drogengesetze an der weltweiten Masseninhaftierung
  • Die Dokumentation der gezielten Verwendung von Drogenpolitik gegen marginalisierte Gruppen wie Indigene Völker, Menschen mit afrikanischer Abstammung und Frauen
  • Die Anerkennung der unverhältnismäßigen negativen Auswirkungen der Prohibition und Kriminalisierung auf Menschen, die von humanitären Krisen betroffen sind.

Der Bericht des UN-​Hockommissars für Menschenrechte beruht unter anderem auf den Berichten der unabhängigen UN-Sonderberichterstatter*innen, die sich über die letzten Jahren zu den Auswirkungen der Verbotspolitik gehäuft haben. Die gemeinsame Pressemitteilung zum Weltdrogentag am 26. Juni 2023 haben wir ebenfalls übersetzt und im Blog veröffentlicht: UN-Expert*innen fordern die Beendigung des weltweiten „Kriegs gegen Drogen“


Der Fall Mexiko

Für den Drogenkrieg in Mexiko haben die Autor*innen Carmen Boullosa und Mike Wallace eine unermesslich wichtige Einordnung der verheerenden Gewalt geleistet. Das Buch „Es reicht! Der Fall Mexiko“ ist auf Deutsch vergriffen, aber gebraucht auffindbar. (Kunstmann Verlag, 2015; bpd Band 1709; auf Englisch: A Narco History: How the United States and Mexico Jointly Created the Mexican Drug War, 2015). Im DLF wurde es vorgestellt: Hier Nachhören oder Lesen.


Kolumbien als Vorreiter für Veränderung

2022 appellierte der kolumbianischen Präsident Gustavo Petro an die internationalen Institutionen und Staatengemeinschaft:

During his first speech at the General Assembly as the President of Colombia, Gustavo Petro said that the world’s addiction to money, oil and carbon is destroying the rainforest and its people under the excuse of a “hypocritical” war against drugs.

[…]

What is more poisonous for humanity, cocaine, coal or oil? The opinion of power has ordered that cocaine is poison and must be persecuted, while it only causes minimal deaths from overdoses…but instead, coal and oil must be protected, even when it can extinguish all humanity,” he said, adding that such reasoning was “unjust and irrational”.

The culprit of drug addiction is not the rainforest; it is the irrationality of the world’s power. Give a blow of reason to this power. Turn on the lights of the century again”, he urged.

The President said that the war against drugs has lasted over 40 years, and it has not been won.

By hiding the truth, they will only see the rainforest and democracies die. The war on drugs has failed. The fight against the climate crisis has failed,” he noted.

Mr. Petro then demanded, speaking in the name of all of Latin-​America, the end of the “irrational war against drugs”.

Reducing drug use does not require wars, it needs us all to build a better society: a more supportive, more affectionate society, where the meaning of life saves us from addictions… Do you want fewer drugs? Think of earning less and giving more love. Think of a rational exercise of power”, he told world leaders.

(Zur ganzen Rede, 2022; Übersetzungshilfe)

Die kolumbianische Expertin Ana Maria Rueda schätzt die Vorreiterrolle Kolumbiens in einem Interview mit dem ipg-​journal von März 2023 wie folgt ein:

Derzeit scheint Kolumbien genau in diese Richtung voranzugehen: Als größter Kokainexporteur ist es gelungen, mehr als 60 Länder dazu zu bringen, einer Erklärung zuzustimmen, die die großen Einschränkungen der aktuellen Politiken anerkennt und die Notwendigkeit aufzeigt, die Würde und die Rechte der Menschen in den Mittelpunkt der Drogenpolitik zu stellen. Noch ist es jedoch schwer abzusehen, wie sich die Situation entwickeln wird. Es müssen dabei auch die verschiedenen geopolitischen Faktoren berücksichtigt werden, ebenso wie die enormen Kosten, die mit der Förderung dieser Änderungen im internationalen Drogenkontrollsystem für Länder und Regierungen verbunden wären, sowohl auf multilateraler als auch auf nationaler Ebene. Es bleibt daher spannend, wie sich das alles noch entwickeln wird.“ (Ganzes Interview hier lesen.)

Ein wichtiger Akteuer der kolumianischen Zivilgesellschaft ist Julián Quintero. 2022 hat er im Interview mit uns Einblick in sein Engagement und die politischen Strategien seiner Organisation gegeben. (Hier lesen.)


Das Stigma und die Strafandrohung begünstigen den gescheiterten Status quo.

Trotz der deutlichen Erkenntnisse bringen sich aber recht wenige Menschen in die öffentliche Debatten ein. Es ist wichtig anzuerkennen, dass das Kokainverbot Auswirkungen auf die Debatte über wirksame Auswege aus dem gewaltvollen Drogenhandel hat. Wer über Kokain spricht, wird als schamlose*r Konsument*in – samt allen Vorurteilen über die Wirkungsweise von Kokain – bezichtigt, den blutigen Drogenkrieg verantwortungslos hinzunehmen und mitzuverursachen. Das Stigma, Tabu und die ganz konkrete Androhung der Strafverfolgung führen dazu, dass selbst evidenz-​basierte Meinungen gegen den Status quo der Kriminalisierung und das Wissen von Menschen, die am meisten mit der Sache zu tun haben, in der öffentlichen Debatte kaum präsent sind.

Es ist nicht leicht, die deutsche Kokain-​Debatte vorbei an den Polizeimeldungen über Drogenfunde, vorbei an den Sorgen über das Anwachsen organisierter Kriminalität auf europäischem Boden, und weg von der zwecklosen Beschämung Einzelner zu navigieren und sie in die politische-​gesellschaftliche Dimension zu heben, dorthin, wo wirksame Lösungsstrategien warten, umgesetzt zu werden. Wir hoffen, mit dieser Informationsseite dazu beitragen zu können.

Hinweise gerne an: mbmc [at] mybrainmychoice . de