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Warum das ungestrafte Morden in den Philippinen weitergeht. Teil 1: Die Polizisten sind die Guten.

Ein Hintergrund-​Artikel von Philine Edbauer.


2016 rief der damalige philippinische Präsident Rodrigo Duterte seinen „Krieg gegen die Drogen“ aus. Während seiner sechsjährigen Amtszeit wurden mehr als 30.000 Menschen auf den Straßen und in den Häusern der Armenviertel getötet und zehntausende Menschen inhaftiert.

Die Zahl von 30.000 Toten stammt aus der mühsamen Arbeit von Aktivist*innen, mit den Familien zu sprechen und möglichst viele Fälle zu dokumentieren. 2018 haben sie bereits aufgehört zu zählen. Da sich die Politik nicht geändert hat und die Berichte und Beerdigungen (offiziell meist als Herzversagen oder ähnliches registriert) nicht nachlassen, muss die aktuelle Zahl der Toten weitaus höher liegen.

Das Zählen und Dokumentieren ist eine äußerst mühsame Arbeit und die Aussichten, dass eine genaue Erfassung den Drogenkrieg beenden oder den internationalen Druck erhöhen könnte, sind gering. Die Aktivist*innen haben sich darauf fokussiert, den Familien Beistand zu leisten, Communities über ihre Rechte aufzuklären und andere Formen des Widerstands zu organisieren.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) ist auf Antrag der überlebenden Mütter und Schwestern und ihrer Anwältinnen (Frauen führen den Widerstand an) tätig geworden und die Beweise, wie die Spuren an den Leichen, sind vorhanden (dank des Engagements einer Forensikerin). Die Zahl der Opfer ist für einen politisch dirigierten Mord im internationalen Strafrecht des ICC unerheblich. Es kommt darauf an, dass dass die Tötungen von einer Regierung organisiert wurden.

Würden die Ermittler*innen des ICC nicht von der neuen philippinischen Regierung daran gehindert, könnten sie Duterte höchstwahrscheinlich die Verbindung zu den Morden nachweisen und ihn vor Gericht in Den Haag bringen. Da die Amtszeit philippinischer Präsidenten seit der Diktatur 1965–1986 auf sechs Jahre begrenzt ist, hat Duterte sich erfolgreich darum bemüht, einen Freund der Familie zu seinem Nachfolger wählen zu lassen: Marcos Jr., den Sohn des Diktators.

Geschichtsrevisionismus an Schulen, folgenlose Morde an Journalist*innen und Aktivist*innen (die z.B. Korruption von Lokalpolitiker*innen aufdecken versuchen) und – nicht zu unterschätzen! – Fake News über soziale Medien mit von der Regierung bezahlten Troll-​Armeen tun ihren Anteil daran, dass dies in einer Zeit gelingen konnten, in der Überlebende der Folter sogar noch leben.

Im Fall der Philippinen steht vor allem Facebook in der Verantwortung und schaut der fortlaufenden Entwicklung des Landes von einer Demokratie zu einer Autokratie schulterzuckend zu. Hätte Facebook mit seinem sicheren Sitz weit weg in den USA vor ein paar Jahren reagiert, als die Katastrophe anfing, sähe das Land heute anders aus. Die Journalistin Maria Ressa, Friedensnobelpreisträgerin 2021 (zusammen mit Dmitri Muratow aus Russland), warnt den Westen seit Jahren davor, den Einfluss der sozialen Medien auf die Demokratie nicht zu unterschätzen. Ihr Buch wurde ins Deutsche übersetzt: Der Originaltitel „How to Stand Up to a Dictator“ wurde beibehalten. Maria Ressa ist übrigens keine Aktivistin gegen den Drogenkrieg, was ihr hierzulande von manchen Aktivisten kurzerhand angedichtet wurde. Sie ist eine Journalistin, die den Journalismus verteidigt. Meinem Stand nach teilt sie keine Meinung zum Prinzip der „Drogenbekämpfung“. Ihr Widerstand gilt dem politischen Morden, dem Missachten von Fakten, den Lügen, der einseitigen Strafverfolgung gegen arme Menschen und den Angriffen auf Journalisten. Sie und Muratow haben den Nobelpreis erhalten, um die Aufmerksamkeit der Welt darauf zu lenken.

Zurück zur Eingangsfrage, warum das ungestrafte Morden weitergeht. Ich habe vor eineinhalb Jahren meine Masterarbeit über die Frage geschrieben, warum die Morde allgemein akzeptiert werden, und dabei einen historisch-​ökonomischen Zugang gewählt, der die Rolle der Drogenpolitik berücksichtigt. Ein Ansatz, der in anderen Arbeiten zu diesem Thema unterrepräsentiert war. Daher heißt es im Titel „Teil 1“. Es gibt zu dieser Fragestellung viel zu sagen, und ich werde versuchen, es nach und nach im Lichte aktueller Entwicklungen (auch in Bezug auf andere Länder und Regionen) zu tun.

Prof. Ochoa, der an der Diliman Universität in der Hauptstadt Manila Psychologie lehrt (eine Universität mit einer stolzen Geschichte des Widerstands), hat für Bignewsnetwork​.com https://​www​.bignewsnetwork​.com/​n​e​w​s​/​2​7​3​8​6​4​0​9​5​/​w​h​y​-​d​o​-​s​o​m​e​-​f​i​l​i​p​i​n​o​s​-​s​u​p​p​o​r​t​-​p​o​l​i​c​e​-​s​h​o​o​t​-​t​o​-​k​i​l​l​-​p​o​l​icy“ rel=„noopener“ target=„_blank“>eine Erklärung verfasst, die einen zentralen Aspekt der Antwort, und zwar in Hinblick auf die gesellschaftliche Moral, umfasst: Die Polizisten (die für einen Großteil der Morde verantwortlich sind) sind die Guten. (Es gibt inzwischen mehrere gute Übersetzungsprogramme, vorne dran ist weiterhin deepl​.com.)

Die Zustimmung der Bevölkerung ist ein Abwägungsprozess. Sie ist keine absolute, sondern eine relative Zustimmung. Es ist keine Zustimmung von heute auf morgen, sondern eine Zustimmung, die sich unter den gegebenen und wahrgenommenen Umständen entwickelt – und von Präsident Duterte ganz bewusst in diese Richtung gespielt wurde.

Prof. Ochoa schreibt im Artikel: „Those who supported the policy blamed drug war victims for being guilty of crimes and bringing harm to themselves and others, echoing Duterte’s comments on criminality and the dehumanisation of drug users.“

Dutertes Versprechen eines „Kriegs gegen die Drogen“ basiert auf der Vorstellung, dass „Drogenkriminelle“ eine Last seien. (Natürlich geht es wie immer nicht um alle Drogen, sondern um bestimmte, die sich für eine politische Kampagne eignen. In den Philippinen ist die „Horrordroge“ Methamphetamin. Der größte Anteil an Meth-Nutzer*innen ist unter armen Menschen zu finden. Meth kann mitunter helfen, lange Schichten durchzuhalten und die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen zu ertragen, was dann zur Abhängigkeit führen kann.)

Die Vorstellung, die Duterte bediente, lautet: Wer der Gesellschaft nicht schaden wolle, würde Meth gar nicht erst anrühren. Wer Meth konsumiert, wird unweigerlich zum Kriminellen, der die Verantwortung dafür trägt, dass es den Philippinen wirtschaftlich schlecht geht. Meth-​Dealer hätten ohnehin jeden Anspruch auf Menschenrechte verwirkt.

Es ist entscheidend zu verstehen: Menschenrechte erfahren ebenso wie die Tötungen allgemeine Zustimmung, aber man kann sie verwirken, wenn man sich schlecht gegenüber der Gesellschaft verhält. Extreme Auffassungen und Dutertes Lügen über Meth-​Gebrauch, die durch Fake News stark angeheizt wurden, behaupten, dass jemand, der einmal Meth genommen hat, praktisch kein Mensch mehr sei und er unwiederbringlich verloren sei.

Es ist außerdem wichtig zu verstehen, dass politische Reden der Entmenschlichung nicht automatisch dazu führen, dass Menschen, die sich zum überlegenen Teil de Gesellschaft zählen, losziehen und andere Menschen töten. Die weltweite Genozidforschung hat festgestellt, dass entmenschlichende Rhetorik in der Politik Teil von Genoziden ist, aber keine alleinige Erklärung ist. (Ob der philippinische „Drogenkrieg“ als Genozid bezeichnet werden sollte, ist umstritten. Eine sorgfältige Diskussion ist jedoch wichtig, weil die Bedeutung der Drogenpolitik und der politisierten Gruppe der Drogenkonsument*innen und Kleindealer sich wie überall im toten Winkel der Forschung befindet. Das Urteil des ICC, sodenn es denn kommt und die Hoffnung auf Gerechtigkeit darf man auf keinen Fall aufgeben, wird zu dieser Frage sicherlich weitere Antworten liefern können.)

Die Polizei agiert also als Beschützer der Gesellschaft. Befragungen mit mordenden Polizisten haben ergeben, dass sie sich in dieser Rolle als Beschützer und Engel wahrnehmen.

Eine Gesellschaft kann jedoch nicht von heute auf morgen in einen solchen Zustand geraten, in dem es auf der einen Seite Menschen gibt, die von der Polizei geschützt werden, und auf der anderen Seite Menschen, die von der Polizei bestraft werden. Es gibt unter denjenigen, die den Drogenkrieg befürworten, viel Angst. Niemand möchte auf der falschen Seite landen.

Eines der stärksten Gegenmittel ist die Sichtbarkeit des Mitleids, das Kümmern, das Erinnern der Familien und Freund*innen der Hinterbliebenen. Die Menschen werden vermisst.

Suchtmediziner*innen, die darauf hinweisen, dass Methamphetamin-​Abhängigkeit gut behandelt werden kann und dass es praktisch identische Medikamente gibt, würden die politische Strategie stark angreifen. Aber leider sind die meisten Suchtmediziner*innen – in den Philippinen, in Südostasien und weltweit – ziemlich stumm und fühlen sich von der Situation nicht besonders angesprochen.

Ein anderes Gegenmittel der Aktivist*innen ist das Entkräften der Lüge, dass die Polizei in Notwehr handeln würde.

Prof. Ochoa schreibt im Artikel: „They also saw the police as potentially vulnerable victims acting in self-​defence according to protocols, reflecting Duterte’s administration’s widely-​circulated, but unsupported claims, that those who were killed were suspects who fought or resisted arrest – creating a grey area justifying the use of deadly force.“


Über die Autorin:

Als Co-​Gründerin und Leitende Koordinatorin und Co-​Gründerin der MyBrainMyChoice Initiative setzt Philine Edbauer sich seit über 6 Jahren für einen drogenpolitischen Kurswechsel in Deutschland und im internationalen Austausch mit weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen ein. Für ihren Masterabschluss an der HU Berlin (Regionalwissenschaften) analysierte sie die Strategien des lokalen und internationalen Widerstands gegen den philippinischen „Drogenkrieg“. (Zum Profil)

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