mybrainmychoice: Wie kam es, dass du einen Substitutionsarzt aufgesucht hast?
M.: Das hat sich gewissermaßen logisch ergeben. Ich war mit meiner Abhängigkeit an einen Krisenpunkt gekommen, die Situation hat mich zunehmend eingeschränkt und Alternativen wie selbstorganisiert oder stationär entziehen kamen aus verschiedenen Gründen nicht infrage. Da ging ich zu einer der niedrigschwelligen Einrichtungen im Bahnhofsviertel, ließ mich beraten und kam zum Glück innerhalb kurzer Zeit bei einem Arzt unter.
Wie läuft dein Substitutionsprogramm ab?
Es gab ein Erstinterview und einen Urintest auf Opiate, später am selben Tag konnte ich in einer Apotheke meinen ersten Becher Methadon trinken. Ab dem nächsten Tag kam ich täglich, also auch am Wochenende, in die Praxis und nahm mein Mittel dort unter Sicht ein. Bis zur „Verordnung zur eigenverantwortlichen Einnahme“, landläufig „Take Home“ genannt, vergingen einige Monate. Dann wurden die Intervalle zwischen den Praxisbesuchen zunehmend länger – also erst sieben Mal jede Woche in die Praxis, dann viermal, dreimal, zweimal und schließlich noch der obligatorische wöchentliche Besuch.
Der wöchentliche Besuch ist auch nach der Novelle der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung von 2017 immer noch die Regel. Längere Zeiträume für Take Home bedürfen der individuellen medizinischen oder sozialen Begründung.
Kontrollen auf den Konsum von Substanzen außer dem Substitutionsmittel finden je nach Praxis unterschiedlich statt. Die einen testen sporadisch zufällig, die anderen testen grundsätzlich immer, wieder andere testen sogar mit Abgabe unter Sicht – obwohl es mehrere Optionen gäbe, diese Prozedur zu vermeiden und trotzdem sicher zu sein, dass die Probe authentisch ist.
Inzwischen bin ich seit einigen Monaten dabei, meine Dosis zu reduzieren und bin aktuell unter 40 Prozent meiner früheren Dosierung angekommen. Meine Praxis lässt mir dabei dankenswerterweise viel Spielraum und Eigenverantwortung.
Du hast dich mit verschiedenen Programmen und Substitutionssubstanzen auseinandergesetzt. Warum gibt es mehrere und inwiefern unterscheiden sie sich?
Auf der einen Seite gibt es nach wie vor auf Abstinenz zielende Methoden, entweder reine Entgiftung oder Entgiftung mit anschließender länger dauernder Therapie in einer entsprechenden Einrichtung.
Auf der anderen Seite ist die Substitution inzwischen endlich als Therapie der ersten Wahl anerkannt und steht allen Personen mit Opioidabhängigkeit offen, nicht mehr wie früher nur schwer Erkrankten oder Schwangeren.
In Deutschland gibt es mit die größte Auswahl an Medikamenten zur Substitution. Die meisten anderen Länder mit Substitutionsprogrammen setzen nur Methadon und Buprenorphin ein. In Deutschland kommen darüber hinaus noch Polamidon, retardiertes Morphin, Diacetylmorphin/Diamorphin (pharmazeutisch hergestelltes Heroin) und in Einzelfällen noch Codein zum Einsatz. Die gängigen Substitute Methadon, Polamidon und Buprenorphin (Subutex®) müssen nur einmal am Tag eingenommen werden und ermöglichen so einen normalisierten Alltag.
Außer Diamorphin werden alle Substitute oral eingenommen. Sie erzeugen keine Rauschwirkung, aber wirken an den Opioidrezeptoren. Sie verhindern so das Auftreten von Entzugserscheinungen und lindern das Craving, also das Substanzverlangen. Bei ausreichender Dosierung des Substituts hat auch zusätzlich konsumiertes Heroin keine Wirkung mehr, da die Rezeptoren besetzt sind.
Im Gegensatz zu Heroin, Morphin, Methadon und anderen Vollagonisten ist Buprenorphin ein Teilantagonist und hat eine etwas andere Wirkung. Es wirkt weniger dämpfend und atemdepressiv, wird im Gegenteil teilweise sogar als anregend beschrieben und kann auch antidepressive Wirkung haben. Eine Steigerung der Dosis bewirkt ab einer bestimmten Menge keine Steigerung der Wirkung mehr. Durch diesen Ceiling-Effekt hat Buprenorphin aber auch Grenzen in der Anwendung. Wenn hohe Dosen konsumiert wurden, reicht Buprenorphin als Substitut unter Umständen nicht aus. Andere Patient*innen wünschen sich den dämpfenderen Effekt von Methadon bzw. Polamidon und kommen mit der größeren „Klarheit“ von Buprenorphin nicht zurecht.
Nicht zuletzt spielt die persönliche Vorliebe der Patient*innen eine wesentliche Rolle, ob man mit einem Mittel klarkommt oder nicht. Szeneinterne Mythen und Vorurteile sind genauso relevant wie der individuelle Metabolismus und die Erwartungen an die Substitution. Der Einfluss der Psyche auf Entzugserscheinungen oder die Zufriedenheit mit einem Substitutionsmittel wird in der Regel unterschätzt, ist aber beträchtlich. Nicht alle Ärzt*innen wählen das Substitut allerdings in Kooperation mit den Patient*innen aus und die Krankenkassen üben Druck auf die Ärzt*innen aus, die kostengünstigsten Substitutionsmedikamente zu verordnen.
Welche Vor- und Nachteile hat die Substitution für dich?
Die Vorteile sind klar: Ich habe einen legalen Rahmen und eine gesicherte Versorgung. Die Unsicherheiten der illegalisierten Substanz mit schwankender Qualität fallen genauso weg wie die immer wieder stressige Beschaffung und natürlich die Finanzierung.
Die Nachteile sind subtiler. In einem Leserbrief tauchte der Begriff der „chemischen Fußfessel“ auf, er beschreibt die Lage durchaus treffend. Da sind die Einschränkungen bei der Reisefreiheit, und es geht noch weiter: Wenn man mit seiner Praxis kein gutes Verhältnis hat und die Praxis die Dosis oder ganze Vergabe als Sanktion einsetzt (leider keine Seltenheit; mehr dazu bei der weiterführenden Literatur unten) kann man in ein neues Abhängigkeitsverhältnis kommen, in dem immer noch ständig der Entzug droht. Salopp gesagt findet sich auf der Straße immer noch jemand anderes, aber von der Praxis ist man ganz unmittelbar abhängig, erst recht, wenn man sich von Szenekontakten ganz lösen und auf „kreative Lösungen“ verzichten will.
Verreisen ist anfangs gar nicht möglich und später mit längeren Take Home-Phasen immer noch eingeschränkt. Bis zur Novelle 2017 war längere Abwesenheit vom Substitutionsort nur bei Aufenthalt im Ausland möglich. Im Inland musste man eine*n Ärzt*in finden, die*der bereit war, einen in „Urlaubssubstitution“ zu übernehmen. Als unbekannte*r Patient*in dabei Take Home zu bekommen, stellte so eine*n Ärzt*in vor nachvollziehbare Konflikte und war dementsprechend komplex. Mit dem Medikament ins Ausland zu fahren benötigt nach wie vor selbst innerhalb der EU recht aufwändige Formalitäten, andernfalls gilt das Mitführen der eigenen Medikamente als Schmuggel von Betäubungsmitteln.
Daneben steht noch das nicht direkt Greifbare. Unterschiedliche Praxen haben unterschiedliche Modalitäten, die mehr oder weniger Wertschätzung und Respekt widerspiegeln. Persönlich habe ich es wirklich gut getroffen, aber trotzdem ist das Objekt-im-System-Sein auf die Dauer eine Belastung für sich. In Praxis und Apotheke sind die Mitarbeiter*innen eingeweiht, aber nicht alle begegnen abhängigen Patient*innen mit dem gleichen Respekt oder gleicher Wertschätzung.
Egal, wie lang man sich bestens führt, sieht die legale Regelung dennoch unverändert wöchentliche Arztbesuche und nach den Richtlinien der Bundesärztekammer auch Sichtkontrolle der Einnahme vor. Das vermittelt einem das Gefühl von einem unabänderlichen Makel.
Die zunehmende Anerkennung von Abhängigkeit als Krankheit mindert zwar einerseits den Vorwurf, willensschwach oder anderweitig moralisch fehlerhaft zu sein, verschiebt aber andererseits das Stigma bloß, weil die Abhängigkeit als chronisch und immer wieder Rückfälle produzierend gilt. Statt charakterschwach gilt man als unverrückbar für immer anfällig für jede Art von problematischem Substanzgebrauch. Auch das ist keine angenehme Zuschreibung und entspricht nicht unbedingt der Realität.
Mitunter fühlt man sich als Mensch unter einer großen Haube von Klischees, Vorurteilen, Regelungen und einer „ungünstigen Zukunftsprognose“ verborgen und unsichtbar. Ich kann den Widerstand einiger gegen die Behandlung – also Unwillen, Ablehnung der Rahmenbedingungen oder weiteren Konsum von illegalisierten Substanzen – gut verstehen, weil einem das gewissermaßen das Gefühl von Autonomie und Kontrolle über das eigene Leben zurückgibt.
Du hast selbst auch Drogenkonsumräume besucht, um saubere Spritzen zu erhalten. Welche Bedeutung haben diese und andere sozialen Angebote – versammelt im Bahnhofsviertel – deiner Erfahrungen und Beobachtungen nach für Konsumierende?
Die Räume sind wegen ihrer vielen Angebote sehr wichtig – Konsumraum, Spritzentausch, ärztliche, psychotherapeutische, juristische Sprechstunden und vieles mehr. Nicht jede*r kann jeden Raum nutzen, da es teilweise zu Hausverboten wegen Verstößen gegen die Hausordnung kommt oder der gesundheitliche Zustand eine Nutzung des Konsumraums nicht zulässt. Das hängt meist mit dem Venenstatus zusammen, da die Vorgaben besagen, dass im Konsumraum keine Hilfestellung beim Konsum in Anspruch genommen werden darf. Durch verschiedene Träger in der Innenstadt besteht aber zum Glück meist auch dann noch eine Option, wenn woanders ein Hausverbot verhängt wurde. Die Konsumräume sind in der Regel so stark frequentiert, dass es eine Warteliste gibt.
Außer am Hot Spot Bahnhofsviertel gibt es auch noch weitere Angebote. Zum weiter auswärts gelegenen Eastside, der größten niedrigschwelligen Einrichtung Europas, fährt abends und nachts ein Shuttlebus zur dortigen Übernachtungsstelle und morgens auch wieder zurück ins Bahnhofsviertel. Die zentralen Notschlafstellen sind meistens voll belegt und ich schätze, dass der Gesamtbedarf nicht gedeckt wird. Die Fahrten ins Eastside werden aber gern genutzt, heißt es. Vielleicht noch wichtig zu wissen: Die Frankfurter Notschlafstellen für Obdachlose stehen Drogengebraucher*innen nicht offen.
Im Bahnhofsviertel gibt es Cafés bzw. Aufenthaltsräume, die Rückzugsräume vor dem Verfolgungsdruck durch die Exekutive sind. Sie sind auch relativ sichere Plätze zum Schlafen – die Einrichtungen dulden das erfreulich pragmatisch.
Möglichkeiten zum Wäschewaschen und Duschen sowie Lebensmittel von der Tafel, teils auch warme Mahlzeiten sind für wohnungslose Drogengebraucher*innen eine echte Hilfe. Auch psychisch kann eine simple Dusche enorm wohltuend sein und Selbstwertgefühl zurückgeben. Die Mitarbeiter*innen sind echt rührend und mit Hingabe bei der Arbeit und oft die einzigen sozusagen „Normalmenschen“, die einem auf so was wie Augenhöhe begegnen, ein Lächeln übrighaben und nicht automatisch auf Distanz gehen.
Das ist auch deswegen wichtig, weil man viele Kontakte verliert – nicht weil man als Konsument*in so auf den Konsum fixiert ist, sondern weil sich das Umfeld abwendet. Verglichen mit anderen ganz selbstverständlich gebrauchten Substanzen sind speziell Opioide von einem riesigen Tabu umgeben und nicht-konsumierende Bekannte flüchten zum Teil förmlich.
Der unvoreingenommene Umgang der niedrigschwelligen Kontaktläden wirkt da schon lange bevor weitere Unterstützung auch nur nachgefragt wird, weil man sich wieder als Mensch wahrgenommen fühlt. Wie eben schon erwähnt, ist beispielsweise in der Substitution ein solcher Umgang nicht selbstverständlich, was meines Erachtens kontraproduktiv ist.
Was hältst du davon, wenn Zeitungen wie etwa der Stern schreiben: „Frankfurt wurde einst bekannt dadurch, dass die Stadt in der Hochphase des Heroinkonsums in den 80er und 90er Jahren den „Frankfurter Weg“ ging: Es wurden so genannte Konsumräume eingerichtet, in denen Junkies ihre Drogen legal nehmen konnten. Die Zahl der Todesfälle sank dadurch. Heute halten sich viele Dealer und Abhängige vor den Konsumräumen auf, insbesondere wenn das Wetter es zulässt. Im Stundentakt gibt es Polizeieinsätze – wie bei unserem letzten Besuch im November 2017. […] Das stern TV-Team hat an diesem Tag im Frankfurter Bahnhofsviertel einige fragwürdige Szenen beobachtet: hemmungsloser Drogenkonsum auf offener Straße, die Gewaltbereitschaft ist unverändert, Dealer verkaufen ohne Skrupel ihre Drogen. Trotz massiver Präsenz der Polizei – es ist alles wie gehabt.“ (Stern, 11.4.2018)
Sowas macht mich unverändert wütend. Es ist gerade so weit wahr, dass man es nicht glattweg von der Hand weisen kann, ist aber letztlich trotzdem Legendenbildung und nichts als sensationsheischende Panik-Rhetorik. Die zitierten 80er und 90er Jahre hatten ganz andere Zustände. Ich war da weder Konsument noch in Frankfurt, aber die damaligen TV-Berichte sind ja selbst bei Youtube zu finden. Was sich da in der Taunusanlage dargestellt hat, hat mit den paar versprengten Szene-Abhängigen, die sich heute in dem kleinen Areal innerhalb des Bahnhofsviertels aufhalten, das ich Dir gezeigt habe, nicht mehr viel gemein.
Damals war die Polizei so mit der Situation überfordert, dass sie den Konsument*innen teilweise Löcher in die Löffel gebohrt hat, damit sie zum Herstellen der Injektionsflüssigkeit nicht mehr zu gebrauchen sind. Fast fertige Zubereitungen wurden den Abhängigen auch schon mal aus der Hand getreten.
Zuletzt ist der „Frankfurter Weg“ unter anderem durch die tendenziöse Medienberichterstattung in Verruf geraten und die Polizei geht wieder dazu über, Konsument*innen zu verfolgen und zu verhaften. Auch wenn Personen mit mehr als Eigenbedarf angetroffen oder beim Handeln erwischt wurden, sind die, die direkt auf der Straße dealen, doch ganz überwiegend selbst Abhängige, die so ihren Bedarf finanzieren – und dabei sehr wohl Skrupel haben.
Formulierungen wie „hemmungsloser Konsum“ verkennen völlig, dass im Spannungsfeld zwischen Abhängigkeit, Angst vor Entzug bzw. psychischen Entzugseffekten und eventuell nicht gegebener Möglichkeit, den Konsumraum zu benutzen, die Priorität des Konsums schlicht alles andere überwiegt. Die Formulierung des Stern trägt eine moralische Wertung gegen Drogengebraucher*innen in sich, die ganz „offensichtlich“ jeder Selbstbeherrschung entbehren und nicht etwa aus einer in dieser Situation stringenten Konstellation von Zwangslagen heraus auf offener Straße konsumieren müssen.
Entgegen einiger Medienberichte ist übrigens Crack nicht „neu“ eingeschlagen. Heroin und Crack treten seit mindestens 15 Jahren parallel auf und sind gleichbleibend bedeutend in den Konsummustern (vgl. MoSyD-Studie bei den weiterführenden Links unten).
Der Artikel behauptet, es gebe „unveränderte Gewaltbereitschaft“. Wie siehst du das?
Gewaltbereitschaft kann ich auch nicht unbedingt bestätigen. Unter den gegebenen Umständen von Verfolgungsdruck, räumlicher Enge, Drogenwirkung und –entzug gehen die Stimmen schnell hoch, aber genauso schnell wieder runter. Heimelig ist anders, aber es ist meiner Meinung nach doch in erster Linie die Folge äußerer Umstände. Subjektiv habe ich jedenfalls unter den Leuten kein Unsicherheitsgefühl, und ich bin weder verwegen noch bewaffnet.
Gegen die in den letzten Jahren neu aufgeflammte Medienaufmerksamkeit stellten sich auch diverse offene Briefe von Mitarbeitern der Drogenhilfe sowie Bewohnern des Bahnhofsviertels, die die Panikmache verurteilen, die Schilderungen nicht nachvollziehen können und zu mehr Miteinander und gegenseitigem Verständnis aufrufen. Naturgemäß erreichen solche Publikationen nicht die Reichweite von sensationsträchtiger No-Go-Area-Rhetorik vermeintlicher Dokumentationen.
Übrigens, die in dem Artikel erwähnten Fäkalien und Abfall rühren nicht allein von den Abhängigen auf der Straße. Am Wochenende ist das Viertel voll mit Besucher*innen, die für die Rotlicht- und Party-Locations kommen. Das verrufene Viertel hat da seine eigene Anziehungskraft. Dann macht die „Szene“ keine fünf Prozent der Menschen auf der Straße mehr aus. Die Partytourist*innen konsumieren dann auch im großen Stil Drogen – vor allem Alkohol – und als Folge dessen bleiben Urin und Erbrochenes auf der Straße. Persönlich kenne ich Wildpinkeln wesentlich eher von Betrunkenen als von Konsument*innen anderer Drogen, die über die Kontaktläden Zugang zu Toiletten haben.
Viele Sorten von Abfall, wie Kaffeebecher und Fast Food-Verpackungen oder –Reste können schlicht gar nicht von den Szeneangehörigen stammen, da diese Güter viel zu teuer sind. Für 3 bis 5 Euro bekommt man schon eine kleine Menge Crack, das von fast allen Angehörigen der Straßenszene konsumiert wird. Da wird das Geld nicht für Kaffee oder Essen ausgegeben, das teils umsonst, teils für wenige Cent in den Kontaktläden abgegeben wird.
Wie hat sich das Bahnhofsviertel in den letzten paar Jahren verändert?
Es wurde schicker, teurer, sauberer, hipper. Von Rotlicht- und Drogenszeneviertel wurde das Bahnhofsviertel zum In-Gebiet für Kreative und Partymeile für Abenteuerlustige abseits des Mainstreams. Vor rund zehn Jahren fingen die Mieten schon an, für studentische WGs nicht mehr bezahlbar zu werden. Inzwischen ist die Bautätigkeit in vollem Gange: Es wird saniert, aufgestockt und zu hohen Preisen verkauft und vermietet, die Wohnbevölkerung nimmt zu und verändert sich gleichzeitig.
Im Gegenzug wird die Klientel, denen die neuen Preise zu hoch sind, mehr und mehr verdrängt.
Traditionsgeschäfte müssen schließen oder den Standort verlassen, da die Mieten in untragbare Höhen steigen. In den letzten Monaten machte ein über hundertjähriges Musikhaus sein Stammhaus dicht und zog um, die Filiale einer gut gehenden Bäckerei mit Café einer örtlichen Kette wurde aus ihren Räumen gekündigt – die jetzt leer stehen – und anstelle einer traditionsreichen „kultigen“ Kneipe ist ein Telefonladen eingezogen. Zwischennutzungen durch Pop-Up-Clubs und ‑Shops verstärken noch den hippen Ruf.
Die Verdrängung betrifft nicht nur Rotlicht- und Drogenszene, sondern ganz allgemein die Alteingesessenen, von Wohnbevölkerung über Lokale und Geschäfte bis zu den Marginalisierten auf der Straße.
Von den Trägern der Drogenhilfe ist mindestens einer Eigentümer der Liegenschaft und hat den Standort erst unlängst aufwändig saniert und umgebaut. Der Träger und seine Klientel werden also aus dem Bahnhofsviertel nicht zu entfernen sein. Dennoch wurde der nutzbare Raum für die Drogengebraucher*innen und Angehörige der Straßenszene immer kleiner und beschränkt sich zuletzt im Wesentlichen auf rund 500 Meter, verteilt auf vier Straßen. Dadurch wird die Szene der Drogengebraucher*innen verdichtet und damit sichtbarer.
Mein Eindruck ist, dass die meisten Szenegänger*innen die Gebiete mit mehr Publikumsverkehr und Einkaufsmöglichkeiten von sich aus meiden und je mehr Geschäfte und Restaurants sich ansiedeln, desto mehr ziehen sie sich dorthin zurück, wo weniger Laufkundschaft die Straße bevölkert. Gleichzeitig können sie da weniger im Getümmel untergehen und fallen wiederum mehr auf, obwohl sie dort eigentlich weniger stören würden.
Welche Rolle spielt die Polizei im Bahnhofsviertel?
Mein Eindruck ist, dass die Polizei im Bahnhofsviertel an die Hintergrundstrukturen nicht herankommt, stattdessen die schwächsten, nämlich die wohnungslosen Drogengebraucher*innen mindestens in mehr Unruhe versetzt und in ihrer Kontrollauswahl rassistische Maßstäbe anlegt. Nur noch mit Sarkasmus kann man sagen, dass die Maßnahmen wenigstens die Versorgungslage der Abhängigen nicht wesentlich beeinträchtigen.
Du hast mir von Stadtführungen durch das Viertel für Touris erzählt. Beobachtest du das eher als sinnvolle, entstigmatisierende Maßnahme oder als zynisch und kontraproduktiv?
Ob es kontraproduktiv ist, dafür müsste ich die Führungen als Teilnehmerin kennen bzw. wissen, welche Informationen die Teilnehmer*innen erhalten. Insgesamt sehe ich „Szeneführungen“ von Außenstehenden aber schon eher kritisch. Es spielen einfach zu viele Faktoren eine Rolle, um ein angemessenes Bild vermitteln zu können. Schon allein, dass die diversen Träger unterschiedliche Angebote vorhalten, eine unterschiedliche Atmosphäre in ihren Räumen haben und mehr oder weniger ebenerdig erreichbar sind, kann die individuelle Auswahl beeinflussen. Jeder redet über die Menschen, aber kaum eine*r mit ihnen. Bilder, Vorurteile, Stereotypen definieren eine Personengruppe, und jede*r meint zu wissen, was es mit „Junkies“ auf sich hat. Die Drogengebraucher*innen im Kontext der Straßenszene sind aber keine homogene Gruppe.
Welche städtischen Angebote sollten deiner Ansicht nach in den nächsten Jahren umgesetzt werden?
Solange noch keine Legalisierung bzw. Regulierung kommt, ist es das Mindeste – was auch dem Geist des Frankfurter Wegs und Akzeptierender Drogenarbeit entspricht – dass die polizeilichen Einsatzkräfte vor Ort die Erlaubnis oder konkrete Weisung bekommen, Konsument*innen nicht zu verfolgen. Seit das Bahnhofsviertel in den vergangenen Jahren wieder so viel Aufmerksamkeit bekommen hat und auch wegen Kleinstmengen Menschen wieder verhaftet werden, ist das Rein-Raus in und aus dem Knast deutlich heftiger geworden. Das ist ja sowohl bekanntermaßen nutzlos als auch speziell gefährlich für die Betroffenen, weil die Übergänge nicht geregelt sind. Weder die Finanzierung durch Hartz IV läuft lückenlos wieder an noch die Substitution.
Auch gibt es aktuell in Frankfurt kein aktives Naloxon-Programm, weder in Gefängnissen noch überhaupt, durch das bei Überdosen akut Leben gerettet werden könnten.
Darüber hinaus gibt es in Frankfurt gerade ein paar weitere politische Konflikte: Unlängst war das Eastside in der Zeitung, weil diese Liegenschaft auch „nur“ gemietet ist und da Begehrlichkeiten wach wurden; dann hieß es aber, der Standort sei sicher. Eines muss einem klar sein: Wenn eine Einrichtung, erst recht eine von der Größe des Eastside, in Frankfurt jetzt neue Räume suchen müsste, das würde nichts werden. Sowohl wegen mangelnder Akzeptanz als auch mangelndem Willen bei der Finanzierung.
Das Eastside will demnächst Frankfurts ersten(!) Spritzenautomaten aufhängen. In Frankfurt gibt es noch keine öffentlich zugänglichen Spritzenautomaten. (Eine Übersicht zu Spritzenautomaten in Dtld. gibt es in den weiterführenden Links unten.) Ich vermute, weil man davon ausgeht, dass die potenziellen Nutzer*innen dann die Kontaktläden aufsuchen. Das mag hinsichtlich des Kontakts zu den weiterführenden Angeboten gut gemeint sein, geht aber an der Tatsache vorbei, dass 30 Prozent der Nutzer*innen von Automaten nicht zu einem Konsumraum gehen würden. Ein Spritzenautomat in der Innenstadt bzw. im Bahnhofsviertel, im Idealfall auch mit Folien und Pfeifen zum Rauchkonsum im Sortiment, wäre meiner Ansicht nach eine nützliche Sache.
Desweiteren gibt es nachts noch keinen geöffneten Konsumraum. Die Maßnahmen gehen klar in die Richtung, die Drogengebraucher*innen mindestens von der Straße, besser noch ganz aus dem Viertel heraus zu bekommen. Nur ein nachts geöffneter Drogenkonsumraum könnte aber die Situation auflösen, dass nachts gezwungenermaßen eben doch wieder auf der Straße konsumiert wird.
Die Situation von Frankfurt mit insgesamt vier Konsumräumen und größtenteils zentral angesiedelten niedrig- wie höherschwelligen Angeboten ist einerseits vergleichsweise luxuriös. Andererseits wird um die vermeintlich katastrophale Situation der offenen Drogenszene ein Riesenbohei gemacht, das an der Realität vorbeigeht. Will man die Situation wirklich nachhaltig verbessern, wird das nur mit weiteren akzeptierenden Angeboten gelingen. Eine weitere Runde Repression, Junkie-Jogging und tägliche Verschiebung der Konsument*innen ins Ostend und zurück wird immer Kosmetik an der Oberfläche bleiben.
Danke für das Interview, M.!
Ich habe zu danken!
Das Interview führte Philine Edbauer.
Zum Weiterlesen:
Initiative Bahnhofsviertel
initiativebahnhofsviertel.wordpress.com/
MoSyD Szenestudie 2016: Die offene Drogenszene in Frankfurt am Main
frankfurt.de/sixcms/media.php/738/MoSyD%20Szenestudie%202016.pdf
Spritzenautomaten in Deutschland finden:
spritzenautomaten.de/standorte/bundesland/?cat=he&postal_code=&province=he
Der Paritätische (2014): ABSCHLUSSBERICHT DES PROJEKTS „WORTMELDUNG SUBSTITUIERTER“
paritaet-bw.de/verband/publikationen/veroeffentlichungen-broschueren/details/artikel/abschlussbericht-des-projekts-wortmeldung-substituierter.html
Dirk Schäffer (2018): Wie viel Paternalismus ist nötig? Das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Substitutionsbehandlung
researchgate.net/publication/325324111_Wie_viel_Paternalismus_ist_notig_Das_Arzt-Patienten-Verhaltnis_in_der_Substitutionsbehandlung
Weitere aktuelle Innenperspektive: Hausprojekt NIKA
Stellungnahme:
facebook.com/hausprojekt.nika/posts/2161416444168811?__tn__=C‑R
Kurzer Bericht in der FR:
fr.de/frankfurt/stadtteile/frankfurt-west/hausprojekt-nika-in-frankfurt-solidarisch-wohnen-a-1656373
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